MORE Blue Velvet

Morgen und Übermorgen findet an unserem Institut die Tagung „Aktualisierung kybernetischen Denkens“ statt. Anlass ist die Übernahme des „Erbes“ des „Instituts für Kybernetik“ aus Paderborn. Von dort hatten wir letztes Jahr umfangreiche Bestände an Büchern, Handschriften, Bildern, Objekten usw. nach Berlin gebracht. Diese sollen die Grundlage für ein umfangreicheres Forschungsprojekt bilden, das zwischen der hiesigen Medienwissenschaft, Informatik, Pädagogik und Instituten der TU-Berlin angesiedelt ist.

Zu den übernommenen Objekten gehört auch ein Lerncomputer, der Anfang der 1970er-Jahre am „Institut für Kybernetik“ als entwickelt und im Buch „Rechnerkunde“ [Frank/Meyer 1972] beschrieben wurde. Diese MORE (Modellrechner) benannte System war ursprünglich als Slave-System (I/O und Lochkartenleser) für den Anschluss an einen Nixdorf N 820 konzipiert worden. Auf diesem sollte eine „Simulation“ von bis zu 63 MORE laufen [97]. Ob und wie viele dieser Systeme tatsächlich gebaut wurden, ist mir nicht bekannt. Gesehen habe ich allerdings zwei Geräte, die die Aufschrift „autonomes MORE-Demonstrationsgerät mit Lochkartenleser“ trugen – und von diesen befindet sich nun einer in unserem Besitz, das ich im folgenden vorstelle:

Namensschild unseres MORE-Gerätes

 

 

 

Das Design des Rechners ist von später verfügbaren Einplatinen-Lerncomputern bekannt: In einem rechteckigen Gehäuse befindet sich eine Platine mit der Mikroelektronik. An der Vorderseite sind die Anzeigen, die Eingabeknöpfe und ein „Slot“, an dem ein Lochkartenleser angeschlossen werden kann. Die gesamte Ein- und Ausgabe erfolgt binär (mit Tastern und Glimmlämpchen). An der oberen Seite befinden sind vier Betriebsmodus-Schalter, die für folgende Funktionen stehen:

2TZ: Zwei-Takt-Zyklus
4TZI: Vier-Takt-Zyklus-langsam
4TZs: Vier-Takt-Zyklus-schnell
LES: Lesen und Abspeichern über Lochkarten [98]

An das Innere des Computers gelangt man durch das Lösen von vier Schrauben. Die Platine ist im Vergleich zum Gehäuse des MORE überraschend klein (ca. DIN A3 groß). Sie ist ganz offensichtlich handgefertigt und gerastert aufgebaut (mit einem Stift wurden handschriftlich die Feldbezeichner A-R (ohne J) und 1-6 aufgezeichnet). Die gesamte Mikroelektronik des Systems ist in TTL realisiert. Ich habe mir die Mühe gemacht, alle TTL-Bausteine zu dokumentieren (um das ungefähre Alter des Rechners zu bestimmen). Hier die Rasteraufteilung:

Die obere Zahl in einem jeden Feld gibt den Namen des TTL-Bausteins an, die untere dessen Produktionsdatum. (Die Beschriftung des ICs auf Position R6 konnte ich nicht entziffern. Den müsste ich bei Gelegenheit mal auslöten und in unseren TTL-Tester stecken. Vielleicht befindet sich im Nachlass aber auch ein Schaltplan …) Der jüngste Chip auf der Platine ist aus der 41. Kalenderwoche 1973. Älter kann MORE also nicht sein. Die elektronische „Logik“ der Platine habe ich noch nicht untersucht/verstanden; das Buch „Rechnerkunde“ gibt allerdings sowohl für das System zwei Prinzip-Diagramme [75, 84] an:

 

 

Das obere Diagramm zeigt den Rechner von einem Programm über das Lochkartensystem gesteuert; das untere von seinem eigenen Rechenwerk.

Nachdem _shock letzte Woche die interne Verkabelung begutachtet und die Spannungen der Netzteile auf TTL-Konformität gemessen hatte, haben wir das Gerät in Betrieb genommen und es funktionierte auf Anhieb.

Um es zu programmieren muss man sich allerdings mit dem Bedienfeld (im Buch bezeichnenderweise als „Deckfläche“ bezeichnet) bekannt machen. Dieses weicht beim vorliegenden Gerät etwas von der Darstellung im Buch [97] ab:

  1. Die Betriebswahlschalter befinden sich auf der Vorderseite oben.
  2. Der Anschluss für den Lochkarten-Leser befindet sich auf der Frontseite.
  3. Auf der linken Seite ist eine weitere Leiste mit 10 Lämpchen angebracht.
  4. Es fehlt ein Anschluss zur „Vernetzung“ mit dem Nixdorf-Computer. Unser MORE ist ein „autonomes System“.

Der MORE ist ein 10-Bit-System. Die CPU verfügt über einen 10 Bit großen Akkumulator und einen ebenso großen „Hilfsspeicher“, welcher als Zwischenspeicher dient. Beider Inhalt wird durch jeweils 10 Lämpchen angezeigt. Die Anzeigen OR (Operationsregister) und AR (Adressregister) zeigen den gerade vom BFZ (Befehlszähler) adressierten Programmbefehl und sein Argument. Das übrige 128 Worte große DRAM (eigentlich zwei 1024-Bit große Shift-Register, s.o. K1-L1)  wird direkt über die Opcodes adressiert. Der Speicher kann auf dem Feld „Speicherzelleninhalt“ eingesehen werden.

MORE verfügt über 8 Opcodes. Diese werden in den obersten 3 Bit des Wortes angegeben, die Argumente/Adressen in den darauf folgenden 7 Bit. Das Buch listet den Befehlsvorrat u.a. als Tabelle [86] auf:

Q meint hier die binäre Null und L die binäre 1 (was beim L zumindest bei Elektrotechnikern für Verwirrung sorgen könnte). n ist das zugehörige Argument, das entweder ein Wert oder eine Adresse ist. Markant ist, dass zwar das Schreiben in den Speicher durch einen eigenen Opcode realisiert ist, das Lesen daraus jedoch ausschließlich durch die (direkte) Adressierung innerhalb der Opcodes geschieht. Sprünge im Programm finden immer bedingt statt. Hierbei wird allerdings nicht auf ein (sowieso nicht vorhandenes) Flag-Register zugegriffen, sondern geprüft, ob der Inhalt der Speicherzelle S0 auf Null steht – und nur falls dies nicht zutrifft gesprungen (IF S0 <>0 THEN GOTO n).

Ob und wie sich das Gerät programmieren lässt, werde ich noch herausfinden und dann hier davon berichten.

Zum Schluss nun noch die Fotos unseres MORE-Gerätes:

Das PCB des MORE

Die „Unterfläche“ der „Deckfläche“

Der Anschluss für den Lochkarten-Leser

Drahverhau, der von den Edge-Connectoren der Platine zur „Deckfläche“ führt

MORE von hinten. Die Rückwand ist eine Hartfaserplatte (von Hornbach!), die Seitenwände sind aus Sperrholz und die „Deckfläche“ ist eine mit blauem Velour bespannte Metallplatte. Das Gerät steht hier auf dem „Kopf“. Die beiden rechteckigen Löscher links und rechts unten sind für eine Aufhängung von MORE an der Wand gedacht.

Die Betriebswahlschalter

Das Eingabefeld; rechts ist ein Loch, in welchem der Lochkarten-Leser angebracht wird.

Bibliografie:

Helmer Frank/Ingeborg Meyer: Rechnerkunde. Stuttgart u.a.: Kohlhammer 1972.

Über Stefan Höltgen

siehe: http://about.me/hoeltgen
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