Höhlenmalerei der „künstlichen Kunst“

Ausgewählte Beiträge von Frieder Nake zur Gegenwart des Computers

Da die IASL-Online ihren Betrieb wohl leider eingestellt hat, veröffentliche ich eine Rezension, die ich letztes Jahr für das Portal geschrieben hatte, nun hier im Blog:

Jan Diestelmeyer/Sophie Ehrmanntraut/Boris Müller (Hgg.):
Algorithmen & Zeichen. Beiträge von Frieder Nake zur Gegenwart des Computers.
Berlin: Kadmos 2021.
353 Seiten (Paperback), ISBN: 978-3-86599-484-4

Wer der Geschichte und Theorie der Algorithmischen Kunst heute erstmals begegnet, sieht sich mit einem ganzen Universum von Denkern, Künstler, Texten, Bildern, Historiografien und Theorien konfrontiert. Die Auseinandersetzung mit dieser vor mittlerweile sechs Jahrzehnten etablierten Kunstform steht in engem Zusammenhang mit der Entwicklung der Kybernetik (weshalb sie auch zeitweilige Kybernetische Kunst genannt wird) und der Informationstheorie. Die Algorithmische Kunst selbst, könnte man sagen, stellt die Emanation dieser Theorien dar – in Form von Kunstwerken und Schriften der Künstler über diese Werke und die dahinter stehenden Ideen. Dies ist zugleich eine Besonderheit der Algorithmischen Kunst: dass sie aus der Theorie geboren ist und die Künstler deshalb immer zugleich Theoretiker waren und sind, die sich mit spezifischen technischen, ästhetischen und kulturellen Fragen auseinandergesetzt haben. Diese Auseinandersetzung findet über das eigene Werk und die Werke anderer Künstler immer zugleich konkret und abstrakt statt – wobei beide Attribute sowohl auf die Werke als auch ihre algorithmischen Grundlagen bezogen sein können: Kunst als konkrete Theorie; Kybernetik und Informationstheorie als konkretisierte Ästhetik. Algorithmische Kunst war allerdings nie l’ars pour l’ars, sondern hat ihr Tun immer auch gesellschaftlich transzendiert: Die Rolle der Computer in der Kunst, in der Arbeitswelt und in der gesellschaftlichen Entwicklung ist sowohl Thema der Werke als auch der sie begleitenden theoretischen Diskurse gewesen.

Den Einstieg in das Thema mit Frieder Nake zu beginnen, ist deswegen eine gute Empfehlung. Denn Nake ist zugleich Künstler und akademischer Informatiker – und, weil er von Beginn an, seit Mitte der 1960er-Jahre ein zentraler Protagonist der algorithmischen Kunst ist, zugleich auch Zeitzeuge und Historiker. Er hat unzählige Werke erschaffen und auf unterschiedlichstem Niveau in zahlreichen Texten darüber reflektiert. Angefangen von wissenschaftlichen Monografien, wie „Ästhetik als Informationsverarbeitung“ über circa 300 Aufsätze, Katalog- und Ausstellungstexte bis hin zu auf Film fixierten Vorträgen sind seine Auseinandersetzungen mit der Theorie und Geschichte dieser Kunstform und ihrer gesellschaftlichen Implikationen Legion. Umso erfreulicher ist das Erscheinen der Anthologie „Algorithmen & Zeichen“, herausgegeben von Jan Distelmeyer, Sophie Ehrmanntraut und Boris Müller im Berliner Kadmos-Verlag. Der Band versammelt 13 Originalbeträge, die zwischen 1970 und 2016 veröffentlicht wurden, eingeteilt in drei Sektionen („Bild“, „Zeichen“ und „Interface“), welche von den Herausgeber:innen eingeleitet werden und mit einem Nachwort von Nake versehen sind. Die Auswahl der Texte zeigt zugleich die Breite der Themen, mit denen sich Nake auseinandergesetzt hat und setzt und die unterschiedlichen ‚Tiefen‘ der möglichen Zugänge (von konkreten Analysen von Algorithmen bis hin zu essayistischen Reflexionen über die Kunstwelt). Die Aufsatzsammlung lässt sich wegen dieser thematischen und methodischen Vielfalt deswegen auch mit unterschiedlichen Fokussen lesen. Eine Auswahl der Beiträge soll im Folgenden vorgestellt werden.

Was ist Computerkunst?

Im ersten, kleinen Text „There should be no computer art“ von 1971 nimmt Nake Stellung innerhalb des Diskurses um die Frage nach der damals neuen Rolle der Computerkunst ein. Während andernorts noch hitzig darüber diskutiert wurde, ob die Ausgaben eines Computers überhaupt Kunst sein können und wer dann der Künstler sei, sah Nake das Problem anders gelagert: Kunst und ihre Stile würden von den Kunsthändlern bestimmt und seien damit nicht viel mehr als Moden mit jährlich wechselnden Themen. Den Computer in diesen Prozess einzubringen würde allenfalls die dadurch entstandene prekäre Situation der Kunst und der Künstler perpetuieren, weil damit neue Methoden in den fragwürdigen Prozess der ökonomisch bestimmten Kunstproduktion einflössen. Nake sieht daher eine andere Aufgabe für die algorithmische Kunst: „Thus, the interest in computers and art should be the investigation of aesthetic information as part of the investigation of communication. This investigation should be directed by the needs of the people.“ (12f.) Die daraus resultierende Projekte sollten sich der Entfremdung des Künstlers von seinem Werk, der Untersuchung des künstlerischen Zeichenrepertoirs und der ästhetischen Parameter (als messbaren Werten) sowie der Rolle der ästhetischen Information für Bildung, Propaganda und den Lebens- und Arbeitsbedingungen der Menschen widmen. Dieser politisch wie rhetorisch seinerzeit noch ungewohnt scharf formulierte Beitrag gibt Nakes intellektuelle Stellung innerhalb der an Benses Institut entstandenen Debatte über das Wesen und die Rolle der Computerkunst vor, den er später durch detaillierte Auseinandersetzungen mit einzelnen Punkten (Messbarkeit, Informativität, Didaktik, Technologie usw.) weiter konkretisieren wird.

In „Zwei Weise das Computerbild zu betrachten“ von 1995 zeigt Nake, inwieweit er den Disput um die Rolle der Computerkunst als dialektischen Prozess versteht. Anhand der Opposition Analog-Digital, die neben vielen technischen Bereichen auch die Bildästhetik der Computerkunst betreffen, führt er die scheinbaren Widersprüche auf unterschiedlichen Ebenen einer Lösung zu: Ob ein Prozess oder Objekt als analog oder digital gilt, sei weniger eine Frage der Technologie als der Betrachtungsweise. Am durch Algorithmen erzeugten Bild „13/9/65 Nr. 2 (Hommage Paul Klee)“ führt er dies vor: Die noch protosymbolische Idee des Künstlers, ihre formale Darstellung als Algorithmus und Computerprogramm (das mit diskreten Zeichen geschrieben wird), die daraus resultierenden Lochstreifen, die den Zeichnungscode für den Plotter enthalten, und schließlich die Striche, die dieser Plotter zu Papier bringt, lassen sich, je nach intellektuellem, optischen oder technologischem ‚Abstand‘, einmal als analog/kontinuierlich, einmal als digital/diskret ansehen. An dieser scheinbar nominalistischen Debatte hängt ein kultureller Diskurs, ja: Disput: Wie lassen sich (digitaler) Computer und (analoge) Kunst überhaupt zusammen denken, trennt sie doch weitaus mehr als nur die Signalform (analog/digital)? Nake zitiert C. P. Snows Zwei-Kulturen-Argumente, die die scheinbare Unversöhnlichkeit des hermeneutischen und empirischen Denkens konstatiert, und sieht gerade in der Computerkunst einen Ausweg als „dritte Kultur“. Werke von Nake, Herbert W. Franke, A. Michael Noll und anderen Künstlern, die ab Mitte der 1960er-Jahre Computer reüssieren, arbeiten an jenem postmodernen Projekt der Überwindung solch modernistischer Ausschlussfiguren mit: Kybernetik, Konstruktivismus, Semiotik, Dialektik fordern die Synthese eines dritten Zustandes, der auf der von Descartes heraufbeschworenen Dichotomie basiert, indem er sie überwindet. Dass dafür auch epistemologische Barrieren überschritten werden müssen, ist die didaktische Forderung, die Nake an jene stellt, die diese Überwindung praktizieren wollen.

Wo ist Computerkunst?

Eine dieser Überwindungsfiguren steht im Zentrum von Nakes Theorie zu digitalen Bildern: Das Verhältnis von der Oberfläche zur Unterfläche eines Bildes. In seinem Beitrag „The Disappearing Masterpiece“ von 2016 widmet er sich der prinzipiellen Unsichtbarkeit der algorithmischen Kunst. Denn anders, als in der ‚modernen‘ Kunst (gemeint ist die Kunst vor dem Einsatz des Computers) kennzeichnet die postmoderne algorithmische Kunst eine „double existence“ (136): als bildhafte, visuell erfahrbare und hermeneutisch interpretierbare (Bild)Oberfläche und als symbolische, im unsichtbaren technischen Hintergrund operierende, formalsprachlich eindeutig darstellbare (Bild)Unterfläche: als Programmcodes und technische Infrastrukturen, die hinter dem Bild operieren und dieses Bild erst hervorbringen. Es handelt sich jedoch nicht um Bildbeschreibungen, die ästhetische Informationen enthalten, sondern um „Klassen“, wie Nake dies nennt: Formalisierungen von Prozessen, die, abhängig von den (manchmal pseudo-zufällig gewählten) Parametern ein Bild hervorbringen. Diese kodifizierte Unterfläche gibt der Algorithmischen Kunst ihren Namen, sie stellt die innovative Leistung des Künstlers dar, der seine ästhetischen Vorstellungen nicht in Farben und Formen, sondern in alphanumerischen Code gießt. Das digitale Bild ist damit das „unischtbare Sichtbare“ („invisible visible“, S. 123). Der ihm zugrunde liegende Code ist als Algorithmus formuliert in beliebigen Programmiersprachen formulierbar. An konkreten Beispielen zeigt Nake, dass die sichtbaren Bilder auch noch nach Jahrzehnten in beliebiger Zahl reproduzierbare Outputs darstellen. Der auratische Originalitätsbegriff der ‚modernen‘ Kunst, ist auf solche Bilder nicht anwendbar. Benjamins Postulat der „technischen Reproduzierbarkeit“ eskaliert in der Algorithmischen Kunst, deren Ausstellungsobjekte in der Tat ‚formelhaft‘ zu nennen wären. Hergebrachte Konzepte der Kunst, wie Duktus, Originalität oder „Meisterwerk“, werden dadurch infrage gestellt: „the masterpiece is disappearing, independend of the criteria we may require as necessary condition for that label.“ (140) Die dahinter liegende Epistemologie lässt sich problemlos in die Gegenwart nicht-künstlerischer Diskurse (Deep Fakes, …) übertragen.

Algorithmen sind „eine endliche Liste von Instruktionen, die wohldefiniert sind. Für jedes Problem einer Klasse von Problemen liefert der Algorithmus nach endlich vielen Schritten eine Losung, indem man die Instruktionen eine nach der anderen ausführt“, definiert Nake 1974 in „Ästhetik als Informationsverarbeitung“1 Als solche sind Algorithmen nicht notwendig an spezifische Sprachen, Speichersubstrate oder Apparate, auf denen sie ‚laufen‘, gebunden und können mithin perfekt historisch bewahrt werden. Im Mittelteil des Bandes befindet sich eine Bilderstrecke, die Bilder Nakes (also ‚Ausdrucke‘ von Algorithmen) zeigen, sowie ein faksimiliertes „Manifesto“ über „Computografiken“ von einer Ausstellung aus dem Jahr 1965 und schließlich das Flussdiagramm eines Algorithmus, der den Bildern „Matrizenmanipulation“ von 1967 zugrunde liegt. Die zugehörigen Grafiken werden auf dem ER-56-Computer von SEL in dessen Assemblersprache programmiert und auf dem Z64-Plotter von Zuse gedruckt worden sein. Später programmiert Nake seine Grafiken in den Sprachen Algol60, PL/1 und in jüngerer Zeit in Processing. Den Grafikausgaben sieht man weder ihre programmiersprachliche ‚Verfassung‘ noch die Hardware, auf denen sie programmiert und generiert wurden, an. Nake schreibt bereits zuvor (S. 134) , dass die Algorithmen von Programmiersprachen unabhängig und damit in jede noch kommende Sprache und für künftige Computer implementiert werden können.2 Sie erfordern allerdings eine spezifische Lektürefähigkeit, die die Vorgänge (auch ohne Computer) mental in Operation versetzt, um sich vorstellen zu können, was das Programm später operativ vollzieht. Dass der Band in der Bilderstrecke derlei handgezeichnete (und an anderen Stellen im Buch technisch gezeichnete) Flussdiagramm-Algorithmen enthält, die die Leser:innen zum „Nachvollzug“ auffordern, zeigt, wie ernst es Nake immer schon und den Herausgebern auch heute mit der Überwindung der „Two Cultures“ gewesen ist.

Wie funktioniert Computerkunst?

Die Grundlage algorithmischer Kunst ist also teilweise formalsprachlicher Natur; neben den Programmiersprachen spielt die Mathematik hier eine zentrale Rolle, denn die Grafiken sind mithin Ausgaben mathematischer Funktionen. Die beiden Texte „Über eine generative Ästhetik“ (1970) und „Information Aesthetic. An Heroic Experiment“ (2012) zeigen, wie präzise diese Ästhetik formuliert wurde. In ersterem Beitrag stellt Nake den Entwurfsprozess und die dabei zu berücksichtigen Variablen vor. Die Mathematik hierzu geht aus der Informationstheorie Claude Shannons hervor, die insbesondere durch die Informationsästhetiker George D. Birkhof, Hans Jürgen Eysenck, Rul Gunzenhäuser, Helmar Frank, Abraham A. Moles, Kurd Alsleben und Herbert W. Franke aufgegriffen und für den Entwurf ästhetischer Maße adaptiert wurde. Die durch sie eingebrachten Formeln zur Ermittlung etwa der „Schönheit“, „Überraschung“ oder „Auffälligkeit“ stellen allerdings keine normativ-ästhetischen ‚Werte‘ her, sondern liefern Maßzahlen für die Zeichen und Superzeichen, aus denen Kunstwerke als Kommunikate zwischen Produzent und Rezipient bestehen. Dieser aus heutiger Perspektive sicherlich etwas kalte und reduktionistisch-intentionalistische Blick auf Kunst hatte vor dem historischen Hintergrund der Emergenz einer neuen Technologie und deren gesellschaftlicher Rezeption durchaus seine Berechtigung, wie Nake im zweiten Text darlegt. Ein „heroischer“ Versuch sei es gewesen, eine Brücke zwischen hermeneutisch-interpretierbarer und mathematisch-beweisbarer Ästhetik, also zwischen Snwos zwei Kulturen zu bauen. In der Informationsästhetik fanden sowohl die kybernetische Theorie als auch die Computertechnologie erstmals eine ‚Schnittstelle‘ zur Öffentlichkeit. In der Ausgestaltung der zunächst noch naiv wirkenden Formeln, wie Birkhoffs Maß für den ästhetischen Wert als Quotient aus Ordnung und Komplexität durch nachfolgende Informationsästhetiker (Rul Gunzenhäuser und Helmar Frank) zeigte sich aber auch bereits ein interner Kritikprozess an den eigenen Methoden, der freilich die mathematische Begründung nie transzendierte, um beweisbar zu bleiben.

Frieder Nake ist Künstler, Theoretiker und Historiker von (Computer)Kunst aber auch akademischer Informatiker. Als solcher hat er den Informatik-Studiengang an der Universität Bremen mit gegründet und dort lange Zeit gelehrt. Vor allem im Arbeitsgebiet „Informatik und Gesellschaft“ hat er sich in verschiedene Debatten zur Rolle des Computers in der Gesellschaft eingebracht. Diesen Tätigkeiten widmet sich die dritte Sektion „Interface“ des Bandes, deren Titel hier sowohl konkret als technische Schnittstelle im Sinne der Human-Computer-Interaction (HCI) zu verstehen ist, als auch als ‚Grenzfläche‘, an denen sich die technische und die gesellschaftliche Sphäre berühren. Als Beispiel sei hier der Text „Die Verdopplung des Werkzeugs“ von 1986 herausgegriffen, der thematisch zugleich eine Klammer schließt, die „There should be no computer art“ geöffnet hatte, indem er die Frage stellt, wie das „transklassische Werkzeug“ (S. 292) Computer die Arbeitsverhältnisse verändert und beeinflusst. Diese Frage ist seit Marx’ so genanntem „Maschinenfragment“ akut, eskaliert jedoch beim Eingang des Computer in die Arbeitswelt: Waren klassische Maschinen und Werkzeuge noch Komplemente manueller Arbeit, so hat sich durch die Entwicklung von Werkzeugmaschinen und schließlich Computern ihre Rolle immer stärker zu Supplementen verschoben. Darauf geht Nake am Rande ein; ihn interessiert hier jedoch stärker die Frage, wie sich die Verdopplung des Computers, nämlich sowohl (oder entweder) Werkzeug zu sein, als auch (oder oder) als „Partner“ (S. 295) aufzutreten, ausgestaltet. Hier taucht implizit wieder das Wechselverhältnis von Oberfläche und Unterfläche auf: Zur Lösung einer konkreten Aufgabe (etwa der numerischen Lösung einer mathematischen Gleichung) erscheint der Computer als Werkzeug; Medium (oder „Partner“) ist er hingegen, weil seine Möglichkeiten interaktiv, sprachlich verfasst und abstrakt sind. Neben der daraus erwachsenden Rollen im Arbeitsprozess (systematische Steuerung von Arbeitsprozessen vs. automatische Mechanisierung geistiger Arbeit) ruft diese Verdopplung auch eine spezifische Pädagogik auf. Mitte der 1980er-Jahre entstehen die ersten Computer mit grafischen Benutzeroberflächen, die zugleich ein neues Nutzer:innen-Bild integrieren: Nutzer:innen-Kategorien sind nun innerhalb der Software abgebildet – „what you see is what you get“ (zugleich als Vereinfachungsversprechen und Beschränkungsedikt verstehbar). Es ist nicht mehr nötig durch die grafische Oberfläche des Systems zu dringen, um den Computer zu verstehen, denn er erklärt nun selbst, wie er benutzt werden soll. Dem gegenüber stellt Nake die Forderung, nicht die User ins System, sondern das System in den Usern zu „integrieren“ – als aufgeklärte Haltung, stets auch die Operationen auf den Unterflächen zu begreifen, „sich tief auf die Algorithmen einzulassen“ (S. 345), um zu wissen, wie das System arbeitet.

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„Algorithmen & Zeichen“ bildet, wie eingangs geschrieben, einen wohl-komponierten Querschnitt durch das Werk Frieder Nakes. In seinem Nachwort bezieht er selbst Stellung zur Auswahl und lobt ausdrücklich den Aufwand, aus seinen zahlreichen Beiträgen jene vorliegenden ausgewählt zu haben. Die Auswahl ist systematisch gruppiert, enthält deutsch- und englischsprachige Texte und überspannt historisch den gesamten Schaffensprozess Nakes. Reproduktionen bereits erschienener Texte in Anthologien lassen sich entweder als Faksimiles realisieren, was eine Herausforderung an das Layout darstellt, aber es ermöglicht die optische und typografische ‚Originalität‘ mit zu vermitteln. Oder die Texte werden neu gesetzt, was im vorliegenden Band geschehen ist. Die Herausgeber haben so die Möglichkeit ihre Auswahl in einen neuen optischen Kontext zu setzen, was ihnen hier typografisch und layouterisch gut gelungen ist. Allerdings haben sich dabei auch Fehler eingeschlichen, die zeitweise etwas befremdlich wirken, wie einige falsche Seitenangaben im Inhaltsverzeichnis, und die manchmal Verständnisprobleme aufwerfen, wie die falsche Abbildungsnummerierung in „Zwei Weisen das Computerbild zu betrachten“, bei der im Text die Abbildungsnummern des Originalbeitrages enthalten geblieben sind, die Abbildungen selbst aber neu und anders durchnummeriert wurden. So fällt es teilweise schwer Aussagen, die sich auf konkrete Bilder beziehen, nachzuvollziehen, wenn der Abbildungsverweis ein anderes als das gemeinte Bild adressiert. Problematisch wird es, wenn innerhalb mathematischer Formeln Fehler auftauchen, weil diese nicht ohne weiteres von den Leser:innen mental kompensiert werden können. So weisen die Formel-Reproduktionen (S. 181) zwar die Möglichkeit, Index-Variablen ins Subskript zu setzen auf (was im Originalbeitrag von 1970 noch nicht gegeben war), dabei sind allerdings bei den Formeln für die „Code-Redundanz im Bild“ und dem „Überraschungswert pro Zeichen“ einige Variablen („r“ im ersten, „H“ im zweiten Fall) ebenfalls in den Index gerutscht, was ihre Bedeutung innerhalb der Formeln im ersten Fall verundeutlicht und im zweiten Fall zu einer falschen Formel führt. Details zwar, aber sie zeigen eben auch die Unterschiedlichkeit von Fehlerarten zwischen diskursiver Semantik und mathematischer Formalisierung: Einen Text versteht man zwar auch, wenn ein Buchstabe irrtümlich falsch gesetzt ist, eine Formel aber nicht, wenn ein Variablenzeichen falsch platziert wurde.3

Die Texte des Bandes laden zur Vertiefung und weiterführenden Lektüre ein und liefern hierzu in den einzelnen Apparaten bibliografische Hinweise. Die Einführungstexte zu den jeweiligen Kapiteln, verfasst von den Herausgeber:innen, ordnen die Beiträge Nakes in die verschiedenen medienwissenschaftlichen Diskurse ein und stellen deren besonderen Bedeutung (etwa, dass sie oft formuliert wurden, lange bevor das jeweilige Thema im medienwissenschaftlichen Fachdiskurs ‚angekommen‘ ist) klar heraus. Wünschenswert wäre eine Bibliografie der Nake’schen Arbeiten – etwa im Apparate des Bandes; vielleicht auch ein Werkverzeichnis, der publizierten/ausgestellten Arbeiten, obgleich dies der Natur der algorithmischen Kunst, wie Nake sie in seinen Texten vorstellt, widerspräche. Es hülfe jedoch einen chronologischen Überblick über das künstlerische Schaffen und seine theoretische Reflexion in den Texten zu gewinnen. Einige Bilder im Buch zeigen, wie eng die Verzahnung zwischen beiden ist. Leider – und das liegt nunmehr in der Natur des Mediums Buch – ist die Bildreproduktion nicht immer adäquat: Detailgenauigkeit muss hier Überblick weichen. So lassen sich die Bildunterschriften der vier Reproduktionen der „Matrizenmanipulation“ (S. 142f.) leider nicht entziffern, obgleich sie, wie Nake schreibt (S. 44), ein zusätzliches Element der Grafik darstellen. Bilder, die ‚groß genug‘ sind, um dies erkennen zu lassen, leiden hingegen an der Buchfalz, die sozusagen eine künstliche Unstetigkeiten in die Grafiken einfügt. Diese Anmerkungen sollten jedoch nicht als Kritik an dem Buchprojekt „Algorithmen & Zeichen“ verstanden werden, sonder zeigen, dass sich in der Reproduktion von Computerkunst in einem anderen Medium als dem Computer immer auch das andere Substrat (hier das Papier und die Buchform) einschreibt. Dies und die algorithmischen Grundlagen der Kunst Nakes rufen daher förmlich zu einem Re-enactment auf, um die Argumente und Algorithmen in ihrer medienspezifischen Eigenart ‚nachzuvollziehen‘, denn, wie Nake im Nachwort schreibt: „Die Kunst ist […] nicht mehr am Objekt feststellbar, sondern nur noch am Prozess.“ (S. 345) Die Anthologie könnte dafür als Anleitung verstanden werden, die Ideen in „die Gegenwart des Computers“ (so der Untertitel des Bandes) zu holen; hierfür liefert sie die kunsttheoretischen und historischen Argumente und beschreibt einige der Algorithmen.

1 Nake, F. (1974): Ästhetik als Informationsverarbeitung. Wien/New York: Springer, S. 188.
2 Der Rezensent hat im Rahmen eines medienwissenschaftlichen Universitätsseminars diese Hypothese 2016/17 nachvollzogen und Frieder Nake zu einer Abschlussausstellung (und einem Gastvortrag) eingeladen: http://www.simulationsraum.de/blog/2019/03/15/artware-oberflaechen-und-unterflaechen/ (09.08.2021).
3 Sybille Krämer weist darauf hin, wie Sprache in mathematischen Formeln eine zusätzliche räumlich-semantische Achse erhält. (Sibylle Krämer: ‚Operationsraum Schrift’ Über einen Perspektivenwechsel in der Betrachtung der Schrift, 2005.)

Über Stefan Höltgen

siehe: http://about.me/hoeltgen
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