»The Secret Soul of the Internet«

Fear Dot Com (USA 2002, William Malone) (DVD)

Das emergente Computernetz weiß alles

Keine Frage: „Fear Dot Com“ macht in vielerlei Hinsicht das fürs Internetzeitalter, was „Videodrome“ fürs Videozeitalter gemacht hat: Es verleiht der Angst vor der Wirkung des Mediums eine Physis und eine Psyche … bzw. eine Psychose. Diese tritt auf in Form eines Serienmörders, der Frauen entführt und diese für seine Webshow ermordet. Die Seite, auf der man sich diese Snuff-Videos anschauen kann, heißt feardotcom und wird eifrig besucht. Diese Popularität ist gleichzeitig der Anlass zum Morden: Der Mörder verbindet mit seinen Taten nämlich eine Agenda: „Wir werden ihnen zeigen, dass die Reduzierung von Beziehungen auf anonyme elektronische Impulse eine Perversion ist.“

Der Besuch der Seite hat allerdings Nebenwirkungen, von denen der Mörder gar nichts weiß: Innerhalb von 48 Stunden stirbt jeder, der sie besucht – von ihr gehen eigenartige, hypnotische Impulse aus, sie scheint ihre Besucher zu kennen, begrüßt sie mit Namen und kurz nach dem Besuch verdinglichen sich deren Ängste und treiben sie in den Tod. Zunächst hält die Polizei und das Gesundheitsamt die gefundenen Toten für Opfer einer Seuche, da sie alle dieselben Symptome aufweisen. Dann entdecken die beiden Ermittler jedoch den kurz vorherigen Webseiten-Besuch als Gemeinsamkeit und begeben sich selbst ins Netz. Damit setzen sie auch den Countdown für das Ende ihrer Ermittlungsarbeit: Sie haben 48 Stunden, das Rätsel zu lösen oder sie sterben daran.

Der Computer als Acousmêtre: »I'm waiting for you!«

Im Computernetz, so stellt sich zum Ende heraus, hat der Geist einer der Frauen, die vom Killer getötet wurden, überlebt: „Sie lebt im Netz. Wenn der Wille stark genug ist, kann sie in Gegenständen weiterleben.“ Der durch Vernetzung entstandene Grid-Computer bietet offenbar das perfekte Biotop für Geister (das zeigte schon „Ghost in the Machine“) und die ideale Struktur zur Speicherung okkulter Energien. Die sind natürlich Ausdruck eines angesichts der Vernetzung von Technik immer schon befürchteten Emergenz-Phänomens: Sind viele Computer im Netz vielleicht „mehr“ als die Summe ihrer Einzelgeräte? Die Konsultation der beiden Ermittler bei einem abgehalfterten Computerwissenschaftler, der mit dem Serienmörder zusammen ein Forschungsprojekt über derartige Möglichkeiten des Okkultismus durch Vernetzung von Computern erforscht hat, bestätigen dies: Er hat seine Überlegungen in einem Buch mit dem Titel „The Secret Soul of the Internet“ niedergeschrieben.

„Fear Dot Com“ bietet zwei Kondensationspunkte für diese Emergenz – zwei Phänomene, die gleichzeitig die Schwelle zwischen der virtuellen und der realen Welt bilden: Auf der einen Seite steht der Serienmörder als Emanation der Medientypik (der Echtzeit-Serienmord nebst seiner medialen Publikation ist so nur durch das Internet möglich), auf der anderen Seite steht die Webadresse, die ein Abbild der unheimlichen, emergenten Vorgänge im Medium präsentiert. Sie liefert dem Täter das Motiv: Die Besucher machen sich „schuldig des Zusehens“ (hier spricht der Film deutlich die Sprache „Videodrome“s) und büßen für diese Schuld am eigenen Leib, indem sie zu halluzinieren beginnen. Der erste halluzinierte Inhalt ist dabei stets die akusmatische Stimme des Computers im Kopf.

„Fear Dot Com“ gestaltet diese komplexe Thematik in der für William Malone typischen Ästhetik: Sein Film sieht aus, als sei er selbst das, was er erst zeigen will: Ein düsteres Bild, voller schräger Perspektiven, stakkatohafter Assoziationen, wie das Abbild einer Innenwelt – nicht ganz real, aber keineswegs bloß surreal. Die verspielte Bildsprache korrespondiert mit der „Spiel“-Metapher, die „Fear Dot Com“ ebenso nutzt, wie „Net Games“: Gleich zu Beginn stellt der Ermittler fest, eines der Opfer habe „zu viel im Internet gespielt“. Das Spiel, das es gespielt hat, war ein Chat-Programm mit der Webseite „feardotcom“, das es direkt mit dem „vernetzten“ Geist verbunden hat.

I'm counting (on) you!

Über Stefan Höltgen

siehe: http://about.me/hoeltgen
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