Die vorhersehbahren Folgen zielgerichteter filmischer Handlung

Next (USA 2007, Lee Tamahori) (TV)

Ein Mann besitzt die Fähigkeit, zwei Minuten in seine eigene Zukunft zu sehen. Das Leben kann ihm also nichts grundsätzlich Neues bieten und Wolf Singer behält recht: Freihe Handlungen gibt es auf der neurologischen Ebene nicht – nur dass die Biologie so gnädig ist, Vorbewusstes und Bewusstes voneinander zu trennen und uns nicht wissen zu lassen, was wir schon wissen, und so dafür zu sorgen, dass wir uns frei und ungerichtet fühlen können.

Filmische Erzählung, dass ist die Suggestion von Handlungsfreiheit: Die Effekte der „unverhergesehenen Folgen zielgerichteten sozialen Handelns“ (Robert Merton/Raymond Boudon) in ein 90-Minuten-Korsett gepresst und das Ganze so aufbereitet, dass der Zuschauer die ja eigentlich vom Skript vorherbestimmte Handlung für offen halten kann – obwohl er eigentlich ja immer hofft und ahnt, wie es ausgeht (etwa im „Happy End“) und deshalb ist die Atombombenexplosion am Ende von „Next“ eine doppelte Überraschung.

Was aber wäre, wenn man „Next“ zwei mal gleichzeitig gucken würde? Wenn man neben dem TV ein zweites aufstellen würde, auf dem man den Film zwei Minuten früher startet und also mit einem Blick zur Seite zwei Minuten in die Zukunft des Plots sehen könnte? Für welches Bild würde man sich auf Dauer entscheiden? Wie beeinflusst die Zeitmanipulation während der Rezeption eines Films dessen Wahrnehmung? Meine TV-Aufnahme von „Next“ hat gestern unter Dropouts und schlecht entfernten Werbe-Einschüben gelitten. Die haben die Rezeption des Films durchaus verändert, aber nicht unbedingt verschlechtert, sondern eher beflügelt. Denn unversehens hat die Handlung zeitlich kleine Sprünge vollzogen, ist vor der gefilmten Zeit in die Zukunft der Filmzeit gesprungen. Oder war das anders herum? Bräuchte es neben Filmzeit, gefilmter Zeit und Rezeptionszeit nicht auch noch eine Medien-Zeit?

Die Frage stellt auch meine kaputte Aufnahme von „Next“. Wie sehr Montage und Zeitreise eigentlich dasselbe sind, zeigt immer wieder der Zeitreisefilm. Sobald man den Effekt aber auf das Trägermedium holt, und die Filmzeit beeinflusst, greift die Zeitreise auf das Zuschauerbewusstsein und den Filmplot über. Pause zu drücken, vor oder zurück zu spulen – was ist das anderes, als dem Gott Chronos die Fernbedienung aus der Hand zu nehmen – zumindest in einem eingegrenzten Machtbereich? Ist das schon einmal untersucht worden, wie der Filmzuschauer mit der Zeit umgeht und in welchem Verhältnis er zu ihr steht und stehen möchte?

Für Nicholas Cage, der in „Next“ der Präkognitive ist, ist sein ganzes Leben eine Ansammlung von Kurzfilmen, deren Ende er stets zu ändern versucht. Er kennt seinen Lebensfilm schon immer ein bisschen als wäre er dessen Zuschauer, der die Vorstellung wieder und wieder besucht. Als er seine große Liebe trifft, wird daraus ein abendfüllender Spielfilm. Wie genial „Next“ die Untiefen der Zeitreise-(Un)Logik umschifft, indem er immer wieder Filmische Lektüreprozesse (man könnte angesichts des umgekehrten Zeitpfeils schon beinahe von einer Re-Hermeneutik des Verstehens sprechen) mit seinem Zeitreiseplot identifiziert, ist bewundernswert.

Über Stefan Höltgen

siehe: http://about.me/hoeltgen
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