Filmfest München – Tag 5

Kleine Motte (Xue chan, China 2007, Tao Peng)

Auf 16 mm und Video fängt „Kleine Motte“ die Geschichte eines 11-jährigen Mädchens ein, das von seinem Vater an ein kinderloses Paar verkauft wird, die das durch eine bakterielle Infektion lahme Kind zum Betteln einsetzen. Irgendwann schafft es das Mädchen zusammen mit einem einarmigen 13-jährigen Jungen zu entkommen. Sie treffen auf eine wohlhabende Frau, die sich zunächst wohlwollend um das Mädchen kümmert und es dann, als sie erfährt, dass ihr nur durch eine sehr teure Operation, bei der ihr die Beine amputiert werden müssen, das Leben zu retten ist, einfach auf einer Brücke zurücklässt. „Kleine Motte“ ist ein erschütternder Film, dem es gelingt die neorealistische Ästhetik (vor allem durch Laiendarsteller, On-Location-Aufnahmen und den intensiven Gebrauch der Handkamera) eng an seine Erzählung zu koppeln. Die ständig durch die Körperbewegungen des Kameramanns wackelnden Bilder vermitteln ein unangenehmes Gefühl der hilflosen Anwesenheit des Zuschauers.

Walz with Bashir (Israel/F/D 2008, Ari Folmann)

Wie vermittelt man ein historische Ereignis und kann dabei zugleich dokumentarisch und emotional erzählen? Folmann findet hierfür genau den richtigen Modus: Sein sehr persönlicher Film über einen israelischen Soldaten, der alle Erinnerungen an den Libanon-Krieg verloren hat und nur noch ein Traumbild mit sich herum trägt, ist ein Zeichentrickfilm. Darin tastet sich der Protagonist dadurch, dass er sich mit ehemaligen Mit-Soldaten über die Kriegszeit unterhält, langsam an die verschüttete Erinnerung heran. Letztlich ist es ein Massaker an Zivilisten gewesen, dem er und seine Kameraden tatenlos zugesehen hatte, welches die Amnesie verursacht hat. Folmanns Film ist zugleich wunderschön und schrecklich. Der mit verschiedenen Techniken erstellte Zeichentrick entrückt das Bewusstsein, dass es sich tatsächlich um dokumentarische Aufnahmen handelt, die später „übertüncht“ wurden; so lange, bis der Film am Ende in real-filmische Dokumentarszenen umkippt, die die trauernden palästinensischen Überlebenden des Massakers vorführen. „Walz with Bashir“ ist der erste Dokumentarfilm, der in diesem bildästhetischen Modus daherkommt. Folmann hat darin die perfekte ästhetische Methode für seine Geschichte gefunden. Ein wirklich ergreifendes Filmerlebnis!

Bierkampf (D 1977, Herbert Achternbusch)

Zur Hälfte eine Aktionismus-Veranstaltung, in der Achternbusch sich mit seinen Darstellern auf das Münchener Oktoberfest begibt, dort als Polizist verkleidet Klamauk treibt und zuletzt einigermaßen angetrunken sogar Schlägerein provoziert. Die andere Hälfte des Films erzählt die Vorgeschichte dazu, in der es wie in vielen Achternbusch-Filmen um die Frage nach der Entwicklung von Identität in der sozialen Gemeinschaft geht, um Liebe, Eifersucht und Visionen vom Zusammensein. Denn die Herbert-Figur ist nicht etwa ein bloßer Provokateur, sondern eigentlich eine tragische Figur auf der Suche nach sich selbst. Dass gerade eine Uniform dieses Selbst zu konstituieren verspricht, das ist vielleicht das Geheimnis hinter der Ambivalenz, mit der Achternbusch hier wie auch in seinen anderen Filmen Polizisten zeichnet. Diesen uniformierten Individualisten aufs Oktoberfest zu all den individualisierten Uniformisten zu schicken, ist der Clou des Films. Man muss der „Bierkampf“-Crew überdies Mut zusprechen, sich überhaupt dorthin gewagt zu haben. Jörg Schmidt-Reitewein, der für Werner Herzog immer nur die weniger waghalsigen Kameraaufträge übernehmen durfte, zeigt hier, wieviel Agilität er mit seinem 16-mm-Equipment inmitten all dieser Wahnsinniger besitzt.

Das Kind ist tot (D 1970, Herbert Achternbusch)

Sein erster Film – ein Kurzfilm, der aus Super-8-Familienaufnahmen besteht. Die ganze Familie Achternbusch wird zu Darstellern und zum Gegenstand der Darstellung. Eine Fantasie wird entwickelt, in der eines der Kinder stirbt und welche Effekte dies auf das Zusammensein hat. Der Off-Kommentar hastet den gezeigten, immer schneller aneinander montierten Sequenzen nach, schafft es kaum in der kurzen Zeit der Darstellung zu beschreiben, was man sieht. Allein schon dadurch wir der Film zu einem sehr interessanten formalen Experiment zwischen Dokumentarismus und Interpretation.

Das Klatschen mit einer Hand (D 2002, Herbert Achternbusch)

Gegenüber Achternbuschs bislang letztem Spielfilm muss ich leider kapitulieren. Zwei längere Erzähleinheiten hat er: Zwei Männer versuchen einen Felsblock umzustürzen, damit er in einen Teich fällt. Sie scheitern. Später machen sich der Sohn des einen Mannes (ein Kind in der „typischen Achternbuschmontur“) und dessen Mutter auf, den Versuch zu wiederholen. Achternbusch will den Film als Plädoyer für die Schließung eines Münchner Theaters verstanden wissen. Vielleicht ist es der Insider-Humor, der mich so ratlos zurücklässt. Auffällig ist aber schon, dass die beiden jüngsten Werke (dieser Film und „Neue Freiheit – Keine Jobs“) anders als die Filme zuvor sind. Anders auf eine Art, die mir nicht mehr so gefällt.

Über Stefan Höltgen

siehe: http://about.me/hoeltgen
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Eine Antwort zu Filmfest München – Tag 5

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