Filmfest München – Tag 2

Noise (USA 2007, Harry Bean)

Endlich ein Film, der den Fehdehandschu von „Falling Down“ aufnimmt und zeigt, dass Protest gegen das System nicht zwangläufig dasselbe ist wie Soziopathie und Wahnsinn. Ein Mann führt Krieg gegen den Stadtlärm – insbesondere gegen versehentlich ausgelöste Autoalarmanlagen, die ihm das Hegel-Lesen unmöglich machen. Zunächst als Mini-Terrorist unterwegs gerät er bald in Konflikt mit dem Gesetz und verliert sogar seine Familie. Dann jedoch macht er sich die Sprache des Systems zu eigen und beginnt dialektisch zu denken. Eine ganz hervorragende Satire, die ihm Kern Konzepte verschiedener Urbanitätstheorien durchdenkt (von Simmel „Blasiertheit“ bis Baudrillards „Kool Killer“) und den Stadtguerillero einmal nicht als das Gegenteil von Normalität, sondern als eine alternative Normalität, als eine Lebensweise unter vielen eben, inszeniert. Als der Mann nämlich seine Familie, seinen Job und seine Wohnung verliert, gerät er in eine völlig andere, entkrampfte Welt, die genau diese Verluste für ihn (und das nicht selten in „doppelter“ Hinsicht) kompensiert. Wirklich ganz großartig! Startet in Deutschland im Juli.

Der Depp (D 1983, Herbert Achternbusch)

Der zweite Retrospektiven-Tag beginnt mit einem recht dadaistischen Werk Achternbuschs. Weil der Depp (Achternbusch) bei einer Wirtshausschlägerein einen Maß-Krug in den Schädel geschlagen bekommen hat, der dort immer noch steckt, kann er außer ein paar Worten nicht mehr sprechen. Seine Frau versorgt ihn und verkauft Bilder, die er malt im nahe gelegenen Wirtshaus. Dort arbeitet sein Schwager, der nach einer Fischvergiftung ein ganz ähnliches Problem hat wie der Depp. Gemeinsam entkommen sie ihrem Leid durch exakt inszenierte Litaneien. Der Depp findet überdies in seiner Ehefrau auch seine Geliebte wieder. Ein Film, der vorführt, wie dicht der Referenzkosmos der Achternbusch’schen Filmografie ist. Etliche Motive und Figuren aus „Der Neger Erwin“ etwa habe ich in Varianten wieder entdeckt. Zudem ist es interessant zu sehen, wie der Konflikt zwischen Heimat und Exotik ein weiteres mal überaus gewinnbringend in Szene gesetzt wird. Und einige Bild-Telefonie-Szenen gibt es überdies – für 1983 recht visionär.

Das Gespenst (D 1983, Herbert Achternbusch)

Allein deshalb schon Achternbuschs wichtigster Film, weil er zum langjährigen Konfliktgegenstand mit der Zensur geworden ist, die ihn aufgrund seiner „Blasphemie“ verbieten lassen wollte und hierzulande letztlich zum Glück gescheitert ist. Thema: Durch den Furz einer Mutter Oberin (mir mittlerweile ans Herz gewachsen: Annamirl Bierbichler) wird ein Jesus (Achternbusch) am Kreuz reanimiert, steigt herab und beginnt mit der Nonne ein beinahe bürgerliches Leben. Die Selbstverständlichkeiten „seiner“ Kirche kennt er nicht nur nicht, sondern findet sie zumeist bösartig und zynisch. Er lehnt ab, was in seinem Namen über die Jahrhunderte verbrochen wurde. Als Ober in einer Schankwirtschaft verdingt er sich an der Seite seiner Oberin und bedient dort Polizisten (eine Paraderolle für Kurt Raab!) und römische Legionäre. Dadurch, dass er sich zu Zwecken der Unterhaltung und Tarnung immer wieder in eine Schlange verwandelt, verliert er nach und nach seine Wunderkraft. Zuletzt bleibt ihm nur noch, mit der Nonne zusammen ein Leben in der Tierwelt zu führen, die die Kirche ja schon immer abgelehnt hat. Voller Derbheiten und ätzenden Polemiken gegen die Staats- und Religionsmacht ist „Das Gespenst“ ein Film, der nicht etwa mutig, sondern eigentlich selbstverständlich ist. Dass er in einem Pfaffenstaat wie Bayern (enormer Druck kam damals vom ehemaligen NSDAP-Mitglied Bundesinnenminister Friedrich Zimmermann – man erinnere sich: „Gewaltloser Widerstand ist Gewalt.“) Probleme bekommen würde, muss man dem Film heute als Gütesiegel anrechnen.

I know the Way to the Hofbrauhaus (D 1991, Herbert Achternbusch)

Der erste „Hick“-Film meiner Retrospektive. Hick ist eine teils buddhistisch-esoterische, teils akademisch-intellektuelle Figur, die von Achternbusch in seiner späten Phase entwickelt und ausgebaut wurde. Hier ist er der Wächter eines ägyptischen Museums, dem eine Mumie entkommt. Zunächst verfolgt er sie quer durch München, wo sie, wie es heißt, schlimme Dinge (wie die im Bau befindliche bayrische Staatskanzlei) vollendet. Als er sie findet, entschließen sich beide zu einem Besuch im Hofbräuhaus, es fehlt ihnen allerdings das notwendige Geld, das sie sich kurzerhand erbetteln. Am Ende entpuppt sich die Mumie als eine von Hick seit langem geliebte ägyptische Pharaonin, mit der er fortan glücklich leben wird. „I know …“ ist ein Stummfilm, der einerseits sehr von seinen slapstickhaften Momenten liebt, aber andererseits auch den Kontrast zwischen Bild und Filmmusik gewinnbringend einsetzt um eine Atmosphäre irgendwo zwischen bierseliger, fremdenfeindlicher Volkstümlichkeit und interkulturellem Chaos anzuzetteln. Auf der Tonspur laufen Maultrommel- und Zitter-Versionen von Mozarts „Vogelfänger“, Pink Floyds „Careful with that Axe, Eugene“, Stücke von Ravel, orientalische Musik und bayrischer Schuhplattler. Spannend ist auch, wie Achternbusch wieder einmal einen Film realisiert, in dem vor allem die Münchner Stadtbevölkerung zu Statisten erklärt wird. Jene Sequenzen in/mit der Menge offenbaren den Doppelwert vieler Achternbusch-Filme zwischen Film- und Aktionskunst.

Über Stefan Höltgen

siehe: http://about.me/hoeltgen
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