Entgrenzung im Film

Über die Rollen der Teilnehmer am Diskurs über Film

Vortrag auf der "FSK Prüfertagung 2006" (10.11.2006)

Siegfried Kracauer hat bereits 1947 in seinem Buch „Von Caligari bis Hitler“ davon gesprochen, dass sich der Film spiegelbildlich zur Gesellschaft, aus der er stammt, verhalte. Insofern waren Film und Gesellschaft also immer schon voneinander ent-grenzt: Was im Film gezeigt wird ist ein Reflex dessen, was in der sozialen Wirklichkeit geschehen ist oder gerade geschieht. Das gilt für den Zeichentrickfilm ebenso wie für den Dokumentarfilm, für das Melodram genauso wie für den Horrorfilm. Es ist allein eine Frage des Abstraktionsgrades. Film ist damit wie jede Kunstgattung lso ein Seismograph gesellschaftlicher Phänomene und darüber hinaus ein Medium, das mit seinen Bildern abstrakte Phänomene der Wirklichkeit bildhaft zu konkretisieren in der Lage ist. Dies, seine prinzipiell hohe Verfügbarkeit durch zahlreiche Medien und seine vermeintliche Trivialität, macht ihn zu einer Kunstform, die nicht nur auf Diskurse reagiert, sondern an ihnen teilnimmt, sie sogar initiiert und selbst Gegenstand von Diskursen wird, die seinen Kunstwerk-Charakter manchmal vergessen lassen.

In der jüngeren Vergangenheit sind einige Filme entstanden, die das Problem der Entgrenzung zwischen Kunst und Gesellschaft aspektieren. Sie tun dies nicht auf ihrer Oberfläche, indem sie etwa beide Bereiche einander gegenüber stellen, sondern subversiv, indem sie dem Zuschauer durch verschiedenste Ästhetiken und Strategien der Entgrenzung darauf hinweisen, dass seine Beziehung zum Geschehen auf der Leinwand oder dem Bildschirm nur eine scheinbar unbeteiligte ist, dass er mehr mit dem Gezeigten zu tun hat, als es nur zu beobachten. Vor allem ein Genre ist in den letzten Jahren zu Höchstformen aufgelaufen, wenn es darum ging, die Entgrenzung erlebbar zu machen: Der Horrorfilm und der mit ihm oft in einem Atemzug genannte Serienmörderfilm. Wirft man einen Blick auf filmsoziologische Untersuchungen zum Serienmörderfilm, wird man feststellen, dass zu keiner Zeit so viele Beiträge zu diesem Sujet entstanden sind, wie heute. Daneben wird der Serienmörderfilm seit etwa 15 Jahren zum einen als eigenständiges, zum anderen als gewinnträchtiges und damit diskursmächtiges „Genre“ wahrgenommen. Initiiert hat diesen Wandel der 1990 erschienene mehrfache Oscar-Gewinner „Das Schweigen der Lämmer“. Ihm nachfolgende Filme wie „Scream“, „Seven“, „Monster“ und „Saw“ stehen in seiner Tradition.

Der Serienmörderfilm hat sich über die Jahrzehnte hinweg bis heute stetig weiterentwickelt. Sein Thema ist durch die verschiedensten Genres hindurch dekliniert worden. Immer wieder ist er – und das zeichnet ihn als „Spiegel-Film“ aus – zum Anlass abstrakter Überlegungen über Moralität, politische Kritik, Hinterfragung von Werten und nicht zuletzt über die Frage des Verhältnisses von Medien und Gewalt geworden. Gerade in Bezug auf dieses letzte Thema, das Verhältnis von Medien und Gewalt, war es ihm möglich, im Akt der Gewaltdarstellung Position zu ihr zu beziehen – sei sie nun affirmativ oder kritisch. Wie der Serienmörder selbst, ist die Gewalt ein Phänomen, das sowohl aus der Gesellschaft kommt, als auch als eines, das gegen die Gesellschaft steht.

Die unter dem feuilletonistischen Begriff des „Torture Porn“ gefassten Filme wie „Saw“, „Wolf Creek“ oder „High Tension“ sind Serienmörderfilme und haben über ihre kompromisslose Darstellung von Gewalt jüngst eine Debatte ausgelöst, die erstaunlicherweise zum Großteil von der Ästhetik und Ethik der Gewaltdarstellung handelte, ohne zu berücksichtigen, dass diese Filme auf oft kluge Weise reflektierend mit dem Thema umgehen. Der Grund dafür scheint darin zu liegen, dass die Gewaltdarstellung der Filme oft ausschließlich als das, was sie abbildet, gesehen wird. Durch sie ausgelöste Affekte wie Schocks und Ekel, scheinen zu verhindern, dass Gewaltdarstellung auch als Metonymie erkannt wird. Die angesprochenen Filme tun allerdings auch einiges, um eine solche Distanzierung des Zuschauers von der Fiktion zu verhindern: Sie authentisieren ihre Erzählungen, bedienen sich naturalistischer Spezialeffekte, unterlaufen Sehgewohnheiten und Darstellungskonventionen. Hinter diesen Ästhetiken und Strategien der Entgrenzung jedoch ebenfalls einen Reflex auf etwas außerhalb des Films Vorhandenes zu sehen, geschieht in den seltensten Fällen. An einem Beispiel will ich darstellen, worin die Möglichkeiten einer solchen Lektüre liegen kann, und auf welche Weise diese Lektüre erschwert wird.

Im Jahr 2004 erschien der britische Serienmörderfilm „The Last Horror Movie“. Im Stil eines Homevideos berichtet der Protagonist Max von einem Projekt, das er durchführt. Ihn interessiert der Nexus zwischen fiktionaler und realer Gewalt – konkret: die Frage, warum wir eine Grenze zwischen Gewaltdarstellungen im Film und Gewalt in der Realität sehen. Max bedient sich zur Illustration seines Projektes einer besonders radikalen Methode: Er leiht sich einen Horrorfilm aus der Videothek aus, überspielt diesen und nimmt auf dem Band Morde auf, die er zwischendrin – mit Blick in die Kamera –  kommentiert. Er tritt auf diese Weise mit seinem Publikum in Kontakt – zunächst medial, später real. Das Band bringt er zurück in die Videothek und beobachtet nun Personen, die sich diesen Film ausleihen und auf der Videokassetten unvorbereitet auf seinen „Experimentalfilm“ stoßen. Max verschafft sich Zugang zur Wohnung dieser Zuschauer, konfrontiert sie mit dem Wissen, dass die gezeigten Morde echt sind, bringt sie schließlich vor laufender Kamera um und kopiert diese Morde ebenfalls auf die Videokassette, die er zurück in die Videothek bringt – und so weiter.

Die Strategie, die „The Last Horror Movie“ zur Entgrenzung von Zuschauer und Film einsetzt, stellt vielleicht den bisherigen Höhepunkt in der Ästhetik der Authentisierung dar. Immerhin gelingt es Max am Ende des Filmes – wiederum mit Blick in die Kamera – uns selbst zu bedrohen: Wir sind die jüngsten Kunden der Videothek, haben uns „The Last Horror Film“ ausgeliehen und so von Max’ Verbrechen Kenntnis genommen. Damit sind wir für ihn und ist er für uns gefährlich geworden. Natürlich scheitert dieser fiktive Einschüchterungsversuch bereits daran, dass wir den Film auf DVD – und nicht etwa auf Videokassette – sehen, dass wir in Deutschland und nicht in England leben und dass wir durch die Paratexte zum Film über den Fake informiert sind. Max bedroht also lediglich einen impliziten Zuschauer – mit dem wir uns allerdings identifizieren sollen. Über ihn stellt er uns die Frage, was wir zu ertragen in der Lage sind, ob wir den Unterschied zwischen medialer und realer Gewalt erkennen können und warum wir untätig bleiben, obwohl wir wissen, dass Unrecht geschieht.

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Ich habe das Beispiel „The Last Horror Movie“ nicht nur gewählt, weil sich an ihm die ästhetische Entgrenzung im Film besonders gut exemplifizieren lässt, sondern weil er zugleich weitere Verständnisarten von „Entgrenzung und Film“ anbietet. Der Film wurde der FSK am 16. Juni dieses Jahres zur Begutachtung für eine Einstufung „ab 16 Jahren“ vorgelegt. Diesem Wunsch des Verleihers wurde nicht nur nicht entsprochen, es haben sich darüber hinaus Befürchtungen ergeben, dass „The Last Horror Movie“ in der ungekürzten Fassung ein Straftatbestand darstellen könnte, weil die in ihm dargestellte Gewalt verbunden mit dem authentischen Modus ihrer Vermittlung „verherrlichenden“ und/oder „verrohenden“ Charakter besitzen könnte. Im Prüfgutachten der FSK heißt es zur Begründung der verwährten Jugendfreigabe: „Der Ausschuss vertrat die Auffassung, dass der Film durch seine wirklichkeitsnahe Machart (Reportagecharakter) und die detaillierte Darstellung der vielen Morde eine stark emotionalisierende Wirkung auf den Zuschauer hat. Man hat kaum die Möglichkeit, eine Distanz zum Geschehen aufzubauen.“ Darüber hinaus konnten „einige Ausschussmitglieder die mögliche Gefahr von Nachahmungseffekten nicht ausschließen“. Die Ästhetik der Ent-grenzung, die „The Last Horror Movie“ verwendet, schien also auch auf versierte Rezipienten gewirkt zu haben.

Der Film wurde schließlich nicht nur nicht „ab 16 Jahren“ freigegeben, sondern vom Verleiher um 16 Minuten gekürzt, um für erwachsene Zuschauer angeboten werden zu können. Gleichzeitig mit der stark gekürzten deutschen kJ-Fassung und einer weniger stark gekürzten Fassung, die von der SPIO/JK als strafrechtlich unbedenklich etikettiert wurde, erschien in Österreich eine „ungeschnittene Fassung“, die aufgrund der durch das Schengener Abkommen weitestgehenden „Entgrenzung“ der europäischen Staaten auch für den deutschen Käufer verfügbar wurde. Die deutsche kJ-DVD des Films thematisiert die Freigabeproblematik, indem sie neben der 59-Minuten-Version eine „überarbeitete Langfassung“ des Films enthält. In dieser sind die Bild- und Ton-Schnitte sicht- und hörbar gemacht worden: In der Länge der jeweils entfernten Szene taucht nun ein Rausch-Bild mit der Einblendung „Szene entfernt“ auf – analog wird bei den Tonentfernungen auf stumm geschaltet und eine ähnliche Texteinblendung über das Bild gelegt.

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Dieses Verfahren ruft Erinnerungen wach an alte Filme wie Louis Malles „Die Liebenden“ von 1958, von dem seinerzeit zum deutschen Kinostart einige Szenen wegen sexueller Obszönität der Schere zum Opfer fielen. Eine TV-Ausstrahlung des Films Mitte der 1980er Jahre enthielt dieses Szenen wieder – jedoch unsynchronisiert und mit Untertiteln versehen. Auf diese Weise kam der Rezipient nicht nur in den Genuss der integralen Fassung des Films, sondern wurde gleichzeitig über die Kürzung informiert und erhielt einen Einblick in den Wandel der Moralvorstellungen. Bei „The Last Horror Movie“ sind nun keine 30 Jahre vergangen, bis die ungekürzte Fassung samt der Kürzungshinweise erschienen ist, was die Überlegung nahelegt, der Prozess des Moralkategorienwandels habe sich soweit beschleunigt, dass der Kürzungsgrund, seine Aufhebung und die Reflexion über ihn zeitlich zusammenfallen. Der Verleiher trägt damit einer Veränderung der Filmrezeption Rechnung, die vielleicht mit der Emanzipation des Lesers gegenüber dem Autor in den späten 1960er Jahren begonnen hat: In dem Maße, wie der Verleiher sich durch die Freigabepolitik dazu genötigt fühlt, den fertigen Film neu zu montieren (auf solchen DVD-Covers steht manchmal „neue Version“), wird der Rezipient zum Filmarchäologen, der nach der integralen Fassung sucht und zum „Editionsphilologen“, der – etwa in Internetportalen wie schnittberichte.de – die verschiedenen Schnitt-Fassungen eines Films einander gegenüberstellt. Die vormals scheinbar fest definierten Positionen von Produktion, Distribution und Rezeption verschwimmen zusehends, auch diese entgrenzen sich voneinander.

Warum diese Strategie gerade anhand von „The Last Horror Movie“ transparent gemacht wurde, mag vielleicht in der Ästhetik und dem Sujet des Films begründet liegen. Immerhin übernimmt Max hier spielerisch die Rollen eines Regisseurs (dem seines eigenen Serienmörderfilms), Zensors (durch dasVorenthalten von Szenen) und Distributors (aufkopieren auf die Videokassette und Einbringen in das Verleihsystems). Der Film geht hochgradig innovativ mit dieser Entgrenzung um und thematisiert das Phänomen darüber hinaus in seiner Affekt-Ästhetik. Dieser Film kann also – will er das bleiben, was er darstellt – gar nicht gekürzt in den Diskurs geraten, weil er sonst zu einem banalen, seiner Dekonstruktion entledigtem Slasher-Film würde – etwas, nach dem er eigentlich nur aussehen will, um seine Agenda zu transportieren. Die Entscheidung des Verleihs, die Kürzungen sichtbar zu machen, rettet diese Agenda zum Teil und setzt den erwähnten „editionsphilologischen“ Prozess beim Zuschauer in Gang.

Das Verhältnis des Zuschauers zum Film hat sich in den letzten Jahren unter anderem dank des Internets stark verändert: Nie wurde so viel über Film geschrieben – und das heißt: so viel über Film reflektiert – wie heute. Mit der Produktion von Paratexten zum Film geht eine Entwicklung einher, die sich vielleicht als einer der fördernswerten Aspekte der Medienkompetenz-Bildung erwachsener Zuschauer sehen lässt: Dieser sieht sich nicht länger hilflos einerseits den Mechanismen der Filmindustrie, andererseits den Strategien der Filmästhetiken ausgeliefert. Es scheint ganz gleichgültig, ob sich in den gesellschaftlichen Diskurs über Filme Instanzen einklinken, die diesen Diskurs lenken oder sogar präformieren wollen. Und jeder Versuch der ästhetischen Entgrenzung – etwa durch authentisierte Gewaltdarstellungen – wird durch den beschleunigten Diskurs über Film bereits im Vorfeld transzendiert und damit dem psychologischen Mechanismus der „Rationalisierung“ unterworfen. Staatliche und private Filmbewertungsstellen werden diesem neuen Zuschauer entgegenkommen und ihre Arbeit auf mehr Transparenz, Information und Ausbildung konzentrieren müssen, wenn sie im Diskurs über den Film noch eine Rolle spielen wollen.


Hier noch zwei Fotos von der Veranstaltung:

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(Im Vorraum des Caligari-Kinos: Kaffeepause zwischen den Referaten/Vorträgen)

 

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Der Kinosaal des Caligari

Über Stefan Höltgen

siehe: http://about.me/hoeltgen
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