Achim und Peter

Dein Herz in meinem Hirn (D 2005, Rosa von Praunheim)

Zoom-Medienfabrik hat mir freundlicherweise eine Presse-DVD von Rosa von Praunheims neuem Film zur Verfügung gestellt – zur Vorbereitung für meinen telepolis-Artikel über Kannibalismus. Rosas Film hat (leider) noch keinen Verleiher.

Der Film erzählt die Geschichte des arbeitslosen Lehrers Achim, der allein in seinem Haus mit seiner Mutter lebt und verzweifelt nach Freundschaft sucht. Über einen Schach-Chat im Internet lernt er Peter kennen – dieser gibt sich zunächst als Lehrerkollege aus, was jedoch nicht zu stimmen scheint. Im Verlauf des Films kommen sich die beiden Männer näher, schließen Freundschaft, werden schließlich zum unverzichtbaren Gegenüber für den jeweils anderen. Nach und nach gibt Peter zu erkennen, dass er dezidiert masochistische Interessen, die bis zur Selbstzerstörung reichen, besitzt: Er will "in" Achim sein – "ganz real". Beide Männer beschließen den Tod Peters und die anschließende Verspeisung durch Achim.

Wer die Filme Rosa von Praunheims kenn, weiß, dass "Mein Herz in deinem Hirn" kein naturalistischer Kannibalismus-Exploiter ist. Der Autor-Regisseur reduziert Handlungsort und Figuren auf ein derart minimalistisches Maß, dass sein Film stark theatreske Züge bekommt. Alle Figuren werden von den beiden Darstellern Martin Ontrop und Martin Molitor gespielt. Das verwirrt zunächst – etwa bei der Darstellung von Achims Mutter und dessen Freundin Hilde, manövriert die Darstellung sogar zeitweise ins Groteske (als Achims Ex-Frau, gespielt durch den Peter-Darsteller mit einer strohblonden Zopf-Perücke, am Fenster auftraucht und Signale der Versöhnung an den Mann, mit dem sie in Scheidung lebt, sendet). Und dennoch hat diese Vorgehensweise System.

Die starke Reduktion leistet zweierlei: Zum einen wird das Spektakuläre des "Falles" ("Mein Herz in deinem Hirn" beruht auf dem authentischen Kriminalfall des "Kannibalen von Rotenburg") bis zur Unkenntlichkeit in den Hintergrund gedrängt; zum anderen werden die Themen des Films (Einsamkeit, Homosexualität, Arbeitslosigkeit, Liebe bis zur Selbstaufgabe) damit selbst zur Darstellung gebracht – werden die eigentlichen "Figuren" des Films, die der Plot wie die Schachfiguren, die anfangs zu sehen sind, ins Feld führt, einander gegenüberstellt und entwickelt. Das Finale, die Ermordung Peters durch Achim, präsentiert der Film mit einer gewissen Notwendigkeit, die sich aus dem Zusammenspiel dieser Erzähl-"Figuren" ergibt. Die fundamentale, quasi existenzialistische Einsamkeit der beiden Männer soll aufgehoben werden, indem der eine dem anderen so nahe kommt, dass beide miteinander identisch werden.

Damit ist der Kannibalsimus-Fall auf seinen metaphorischen Kern reduziert. Praunheim scheint es nicht daran zu liegen, die Tatsachen medial aufzubereiten, sondern seine Interpretation des Grundes anzubieten, indem er den Hergang verfremdend darstellt. Auf diese Weise schreibt sich sein Film in einen Diskurs ein, der sich in den vergangenen Jahren immer wieder als Begleiterscheinung spektakulärer, von den Medien aufgebauschter Verbrechen findet: Ob der Spielfilm "Monster" über die Serienmörderin Aileen Wuornos, die verschiedenen Dahmer-Adaptionen oder selbst Sufjan Stevens "John Wayne Gacy Jr."-Song: Immer geht es um die Sichtbarmachung psychischer Prozesse als eine Art Ätiologie des Verbrechens. Verstehenmachen wollen Filme wie "Dein Herz in meinem Hirn", nicht zeigen und nutzen das zeigen zum Entwickeln von Verständnis.

Leicht zugänglich ist Praunheims Film nicht. Die Digivideo-Ästhetik wirkt zunächst sehr krude, die Schwarzweiß-Inserts, in denen Achim Videotagebuch führt, sind etwas manieriert und die Verkörperung aller Figuren durch die beiden Schauspieler gibt dem Film zeitweise etwas unfreiwillig(?) Komisches. Und doch brechen durch diese Verfremdungseffekte beständig "Wahrheiten" hindurch, die jenseits der Inszenierung liegen, die sich aus dem Fall und seinen Beteiligten ergeben und Fragen aufwerfen. Dahingehend ist "Dein Herz in meinem Hirn" ein tiefgründiges Drama über soziale und psychische Prozesse, als das auch schon andere Filme des Regisseurs lesbar sind und waren.

Über Stefan Höltgen

siehe: http://about.me/hoeltgen
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