David Lynch spricht über Hollywood

Mulholland Drive (USA 2001, David Lynch)

In mehrfacher Hinsicht ist David Lynch mit „Mulholland Drive“ bei sich selbst angekommen.

Zum einen ganz real, räumlich: Er selbst wohnt in Los Angeles am
Mulholland Drive, einer kurvigen Straße oberhalb von Hollywood, die bis
zum Pazifik führt. Seit „Blue Velvet“ bewegen sich Lynchs Protagonisten
auf Straßen, Highways, Interstates – zumeist durch die Nacht. Jeder
seiner Filme präsentiert in wenigstens einer Szene die im
Scheinwerfer-Lichtkegel dahinrasenden gelben Mittelstreifen der Straße.
In „Mullholland Drive“ werden diese Streifen, die jetzt ununterbrochen
sind, auch gelegentlich gezeigt. Sie suggerieren: Überholen verboten –
oder: nicht mehr nötig, denn du bist angekommen.

Wo ist der Zuschauer von „Mulholland Drive“ angekommen? In
„Lynchville“, wie man die Orte Lumberton oder Twin Peaks aus den Filmen
David Lynch immer wieder genannt hat? Nein, an einem ganz realen Ort,
in Los Angeles ist man angekommen – der Stadt, in der die meisten
Filmprojekte Lynchs ihren Anfang fanden. Ging es in den vorangegangenen
Werken immer wieder um die Fahrt und die Erlebnisse der Reisenden auf
dieser Fahrt (besonders deutlich thematisiert Lynch dieses „Wizard of
Oz“-Motiv in „Wild at Heart“, „Lost Highway“ und „A Straight Story“),
so ist „Mulholland Drive“ in dieser Hinsicht ein statischer Film, ein
Film über den Endpunkt dieser Reise, deren Ausgangspunkt das Philadelphia aus „Eraserhead“ ist.

Der Zuschauer dieser Reise hat auf dem Beifahrersitz gesessen und
durfte, bzw. musste miterleben (was, wie uns „die Spritztour“ Jeffreys
mit Frank in „Blue Velvet“ gezeigt hat, nicht immer leicht war). In der
Stadt der Filme, wo – wie es in der amerikanischen Folklore so schön
heißt – „die Träume ihren Anfang nehmen“, endet die Reise mit einem
Autounfall auf dem Mulholland Drive (fast scheint es, als habe Lynch
den eigenartigen Unfall aus „Wild at Heart“ jetzt noch einmal genauer
unter die Lupe genommen!) – und damit beginnt Lynchs derzeit letzter
Spielfilm.

Er erzählt die Geschichten von Betty/Diane und Rita/Camilla. Die
aufstrebende junge Schauspielerin Betty kommt in Los Angeles an, wo sie
ihre Karriere beginnen will. Dort trifft sie auf Rita, die einen
Autounfall hatte und sich an nichts mehr erinnern kann (Lynch: „Amnesie
und Schauspielerein haben eine Menge gemeinsam!“). Zusammen versuchen
sie das Geheimnis Ritas zu lüften und entdecken dabei, dass es in
Wirklichkeit das Geheimnis Bettys ist, das dahinter verborgen ist. Im
Hintergrund der Geschichte ziehen die üblichen Lynch-Dämonen die Fäden.
Es gibt einen mysteriösen Paten namens Luigi Castigliane, der die
Machenschaften in Hollywood kontrolliert, einen mysteriösen „Cowboy“,
der die Grenzen von Vergangenheit und Zukunft kontrolliert und einen
noch mysteriöseren Mr. Roque, der offenbar alles kontrolliert. Sie sind
die Phantome, die die Geschichten von Rita und Betty lenken.

Mulholland Drive handelt in seinem ersten Teil davon, wie der
Film-Traum, die Schauspiel-Karriere und die Liebe entstehen. Der zweite
Teil des Films ist eine Inversion des ersten und beschreibt, wie all
dies wieder vergeht. Lynch inszeniert hier zunächst ein Abziehbild
Hollywoods, vollgestopft mit Allusionen und Referenzen an große Filme,
Regisseure und Schauspieler, um es im zweiten Teil genüsslich zu
destruieren. Was Betty nach ihrer Verwandlung (oder ist es eine
Rückverandlung?) in Camilla erlebt, ist wohl das, was die meisten
Schauspieler in der menschenmaterial-ermüdenden Kunstschmiede
Hollywoods erleben. Sie schaffen es nicht, stürzen ab, werden
missbraucht und dann liegen gelassen.

Doch auch dies, dieser zweite Teil von „Mulholland Drive“, ist ein
Klischee. Meine Theorie über die möbiusartige Inversion zwischen erster
und zweiter Hälfte des Films ist genauso richtig wie falsch, weil sie
versucht „das Ganze“ zu erklären. Denn abermals tauscht Lynch die
tradierten filmischen Kohäsionsmittel, die die Plotlogik begründen und
die Glieder des Films kausal verknüpfen, gegen – ich nenne sie mal
„Scharniere der Verunsicherung“ aus. Sie verunsichern das
hermeneutische Durchdringen der Erzählung, verunmöglichen es, aus
„Mulholland Drive“ eine Erzählung zu generieren, in der alle Details ihren (plot-)logischen Sinn finden.

Damit ist Lynch auch narratologisch wieder bei sich selbst angelangt.
War sein vorangegangener Spielfilm in vilerlei Hinsicht eine „Straight
Story“, so kann es kaum „ungerader“, ja, kurviger zugehen als auf dem
„Mulholland Drive“. Einzig eine gewisse werkinterne Kohärenz in der
Motivwahl ist erkennbar. Mit „Blue Velvet“, das haben etliche Kritiker
und Interpreten herausgearbeitet, hat sich Lynch auf die Pfade der
Postmoderne begeben. „Blue Velvet“ ist eine Zeit- und Zitatenmaschine
der Filmgeschichte(n), die in „Wild at Heart“ um die Zitate der
„amerikanischen Mythologie“ ausgebaut wird. In „Twin Peaks“, der Serie
wie dem Film, erweitert Lynch sein Repertoir um eine Reflexion über die
Erzählgesetze des Films, die er bricht und damit auf ihre Existenz und
ihre Tradition/Tradierung hinweist. „Lost Highway“ schließlich holt den
Apparat selbst durch beständige Inszenierung vor die Kamera. Und
nachdem Lynch in „A Straight Story“ eine Art Bilanz seines eigenen
Schaffens gezogen hat, kann er sich in „Mulholland Drive“ um die
Dekonstruktion größerer Zusammenhänge, des „Diskurses Hollywood“,
kümmern.

Nahezu wissenschaftlich geht er bei seiner Analyse des Filmgeschäftes
vor. Von der Vorproduktion über die Drehsituation bis hin zur
Release-Party wird jeder Abschnitt aspektiert und mit die Mythen, die
über ihn existieren, konfrontiert. Zwischendrin platziert Lynch seine
typischen Black (oder in diesem Fall: Blue) Boxes, die „Mac Guffins“,
die sich zwar nicht selbst erklären lassen, die aber als „Lückenfüller“
für dem Fortgang der Produktion dienen. Immer, wenn diese Mac Guffins
ins Bild rücken, wird „Mulholland Drive“ besonders „filmisch“: Es gibt
überbetonte Abblenden, Kamrafahrten und -schwenks, Wackelbilder usw.,
die darauf hinweisen, dass man sich in einem Film befindet und die so
das mimetische Konzpet traditioneller Hollywood-Narrationen aufbrechen
– uns die auf die „vierte Wand“ hinweisen.

„Mulholland Drive“ war zunächst als Pilotfilm für eine neue
Fernsehserie geplant. Nachdem die Produktionsgesellschaft das Projekt
aus Kostengründen abgebrochen hat, Lynch aber die Möglichkeit bot,
seinen Pilotfilm zu einem Kinofilm umzuschneiden, sind dem Regisseur
„in einer Nacht“, wie er 2002 in einem Interview
(mit den Lübecker Nachrichten) gesteht, Ideen gekommen. „Mulholland
Drive“ erzählt von den Unwegbarkeiten der Filmproduktion – greift die
Geschichte seiner selbst und seines benahen Scheiterns auf, kommt damit
bei sich selbst an und ist sein eigener Ausgangspunkt.

Stefan Höltgen

Über Stefan Höltgen

siehe: http://about.me/hoeltgen
Dieser Beitrag wurde unter Festival-Tagung-Messe, Filmtagebuch veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.