Biopolitik in Metropolis

Michael Winterbottoms „Code 46“ als Destillat urbaner Dystopien

Gerade die Science-Fiction-Filme, die in nicht allzu ferner Zukunft
spielen, bieten immer Anlass zur politischen Lektüre – insbesondere,
wenn sie Themen aufgreifen und weiterspinnen, die heute aktuell sind.
Zumeist handelt es sich bei diesen Filmen um Dystopien, also negative
Utopien, die – wie „Robocop“ (1987) – von den Auswüchsen (in) der
Urbanität, oder – wie „1984“ (1956/1984) – von der Unmenschlichkeit des
Überwachungsstaates, oder – wie „Gattaca“ (1997) – von den Folgen der
Technologisierung für das Leben des Menschen handeln. Michael
Winterbottoms neuer Film „Code 46“ ist insofern nicht originell, denn
er greift alle drei Themen auf und lässt sie einfließen in eine „Story,
die erkennbar in einer nicht allzu fernen Zukunft liegt“ (Presseheft).

Inhalt

Die durch die weitgehende Zerstörung der Ozonschicht und den damit
verbundenen Folgen für Ökologie und Ökonomie gekennzeichnete Welt ist
in zwei Lebensbereiche unterteilt: Zum einen gibt es die großen Städte,
in denen der Lebenskomfort sehr hoch ist, wo die Technologisierung den
Alltag bestimmt, keine Krankheiten und keine Gewalt herrschen. Zum
anderen gibt es „al fuera“, die Außenbezirke und Randgebiete der Stadt,
die durch Wüste, Armut und Krankheiten geprägt sind und sorgsam von den
Städten abgegrenzt werden. Um von einer Stadt in die andere zu reisen,
bedarf es „papelles“, das sind Visa, die nach bestimmten Kriterien
ausgestellt oder verweigert werden. In der Shanghaier Firma „Sphinx
Cooperation“, in der die papelles gedruckt werden, ist ein Fälscher am
Werk, der die Visa stiehlt und auf dem Schwarzmarkt an Reisewillige
verteilt, die keine Reiseerlaubnis bekommen.

William Geld (Tim Robbins) ist damit beauftragt, den Visa-Betrug
aufzuklären. Er verfügt über die besondere Fähigkeit, durch einen
implantierten Empathie-Virus, die Gedanken seines Gegenübers zu lesen.
Schnell entlarvt er die Angestellte Maria als die Betrügerin. Er
denunziert sie jedoch nicht, sondern lässt sich auf eine Affäre mit ihr
ein. Diese Affäre hat Folgen: Einerseits wird William Zeuge von Marias
illegalen Aktivitäten; andererseits schwängert der verheiratete William
Maria bereits in der ersten Nacht. Als er – nach Seattle zurückgekehrt
– den Auftrag erhält, noch einmal nach Shanghai zu reisen, weil es dort
einen weiteren folgenschweren Betrugsfall mit papelles gegeben hat,
findet er Maria in einer Abtreibungsklinik, in die sie gegen ihren
Willen gebracht wurde. Den Embryo und ihre Erinnerung an William hat
man ihr „entfernt“, weil ein „Code 46“-Vergehen vorlag: William und
Maria haben zu 50 Prozent dasselbe Genom. Der Staat verbietet, dass aus
solchen Verbindungen Kinder entstehen. Aber William und Maria sind
einander verfallen und fliehen vor dem Staat.

Umweltzerstörung – Urbanität – Überwachung

Schon nach wenigen Minuten wird klar, dass „Code 46“ es keineswegs
darauf anlegt, eine „originelle“ Dystopie zu sein. Alles, was der Film
zeigt, ist aus der Geschichte des Genres sattsam bekannt. Winterbottoms
Film fungiert – was seine dystopischen Erzähltopoi angeht – mehr als
eine Art Zusammenfassung und Konkretisierung. Hierbei zeichnen sich vor
allem drei Perspektiven ab, die „Code 46“ aus der Tagespolitik ableitet
und mit bekannten Erzählelementen verschränkt: Die fortschreitende
Ausdünnung der Ozonschicht, den sich verschärfenden Konflikt zwischen
(reicher) Stadt (zumindest was die Städte außerhalb des Trikonts
betrifft) und armem Land und die Folgen zunehmender Technologisierung
des Alltags, „Neurologisierung“ des Geistes sowie der gentechnischen
Durchleuchtung des Individuums.

Die Welt von „Code 46“ ist eine Nachtwelt: Das Leben, von der
Freizeitgestaltung bis hin zur Arbeit, findet nach Sonnenuntergang
statt, um sich vor den schädlichen Wirkungen des Sonnenlichtes zu
schützen – zumindest in der Stadt. Außerhalb bestimmt das Überleben in
den Wüsten und verwüsteten Trabantenstädten den Tagesrhythmus. Hier ist
man auf das schädliche Sonnenlicht angewiesen und folglich streben alle
Menschen danach, in die hermetisch abgeriegelten Städte zu gelangen.
„Code 46“ zeigt die Zukunft der Gesellschaft als vollständig
polarisiert: Drinnen oder Draußen löst alle anderen Formen der sozialen
Differenzierung ab bzw. auf. Die soziale Stellung, das Geschlecht oder
die Herkunft wird angesichts des überlebenswichtigen Unterschiedes vom
Drinnen und Draußen gleichrangig. Doch so sehr das Leben drinnen mit
Privilegien verbunden ist, so hoch ist auch – jenseits der sozialen
Kosten – der individuelle Preis. Der besteht in permanenter
Überwachung, nicht nur durch die Möglichkeiten jenes Empathie-Virus’
(einer typische Science-Fiction-Erfindung), sondern auch durch die
überall installierten Kameras, deren Perspektive der Zuschauer oft zu
sehen bekommt und schließlich in der Bedrohung der Individualität durch
die Biomacht.

Biopolitik

Etwa Mitte der 1970er Jahre wendet sich Michel Foucault in Der Wille
zum Wissen dem Phänomen der Biopolitik zu. Er sieht, dass sich im 19.
Jahrhundert eine Transformation der Machtmechanismen einstellt, die
„das alte Recht, sterben zu machen oder leben zu lassen“ ergänzt (und
später ablöst) durch eine Macht, „leben zu machen oder in den Tod zu
stoßen.“ (Foucault 1977, 165). In seiner Vorlesung vom 17. März 1976
definiert er diesen Umbruch und die neue Macht, die er „Bio-Macht“,
nennt, wie folgt:

„Nach einem ersten Machtzugriff auf den Körper, der sich nach dem Modus
der Individualisierung vollzieht, haben wir einen zweiten Zugriff der
Macht, nicht individualisierend diesmal, sondern massenkonstituierend,
wenn Sie so wollen, der sich nicht an den Körper-Menschen, sondern an
den Gattungs-Menschen richtet. Nach der Anatomie-Politik des
menschlichen Körpers, die sich im Laufe des 18. Jahrhunderts
ausbreitete, sehen wir am Ende dieses Jahrhunderts etwas auftreten, das
keine Anatomie-Politik des menschlichen Körpers mehr ist, sondern
etwas, das ich als »Biopolitik« der menschlichen Gattung bezeichnen
würde. Worum geht es in dieser neuen Technologie der Macht, in dieser
Biopolitik, in dieser Bio-Macht, die sich durchzusetzen beginnt? Ich
habe es vorhin in zwei Worten gesagt: es handelt sich um eine
Gesamtheit von Prozessen wie das Verhältnis von Geburt- und
Sterberaten, den Geburtenzuwachs, die Fruchtbarkeit einer Bevölkerung
usf.“ (Foucault 1976)

Die von Foucault beschriebene Form der Lebensverwaltung durch die
Bio-Macht umreißt die derzeitige Form westlicher Gesellschaften passend
und scheint in „Code 46“ direkt ins Filmbild überführt worden zu sein.
Der Vorsatz war es, ein im Wortsinne „klassisches“ Erzählkonstrukt
oder, wie es der Regisseur formuliert, „eine ganz normale Love-Story
durch Ergänzung mit dem Motiv des ödipalen Tabus, also nicht mit seiner
eigenen Mutter schlafen zu dürfen, ins Extrem zu treiben.“ (Presseheft)
(Dass die 50 prozentige Identität des Genoms nicht notwendig zu dem
Schluss führen muss, dass es sich bei Marias Genom um das von Williams
Mutter handelt, ist ein Denkfehler im Skript.)

Herausgekommen bei diesem Vorsatz ist jedoch nicht, wie bei Sophokles,
ein Drama um Identität und Fatalität. William, der „Code 46“-Ödipus
löst zwar das Rätsel der Sphinx (Cooperation), bekommt dafür aber
nicht, wie sein griechischer Vorfahr, den Königsthron und die Königin
(Iokaste/Maria) zur Braut. Denn die Zeiten haben sich Foucault zufolge
radikal geändert: Die Feudalherrschaft des Patriarchen über Leben und
Tod ist der Biomacht von Vater Staat gewichen. Die Strafe für die
Verfehlung Williams’ ist daher auch keine physische (Ödipus hat sich
die Augen ausgestochen), sondern eine psychische Amputation: Ödipus
wird einfach die Erinnerung an Iokaste gelöscht. Damit bleibt die
Fatalität der Erzählung bestehen; die unerklärliche Anziehungskraft
zwischen William und Maria, die selbst ihre künstliche Amnesie nicht
verhindert, belegt dies.

Der Staat indes scheint mit seinem Code-46-Gesetz zunächst an die
Grenzen des Irrationalen (nämlich jener Fatalität der Liebe zwischen
den beiden Protagonisten) zu stoßen. Doch auch hierfür findet die in
der Neurophysiologie manifest gewordene Biomacht einen Ausweg: Der
Empathie-Virus soll es gewesen sein, der William in die Schleife von
Liebe und Inzest geführt hat. Dass er am Schluss des Films entfernt und
William damit wieder als geheilt in den kontrollierbaren Schoß seiner
eigentlichen Familie entlassen wird, ist in keiner Hinsicht ein Happy
End. Deutet es doch vor allem den individuellen Preis für Wohlstand und
Sicherheit in der Stadt an: den Verlust von Empathie.

Metropolis

Erstaunlich an „Code 46“ ist, dass er ein Stadtbild entwirft, das im
krassen Gegensatz zu den Stadtdystopien des Genres steht. Von
„Metropolis“ (1927) über „Blade Runner“ (1982) bis hin zu „Dark City“
(1996) ist die Stadt stets negativ konnotiert gewesen: als Ort der
Gewalt, der Ausbeutung und der Isolation. Die Metropolen von „Code 46“
sind jedoch nur augenscheinlich einzelne Städte. Durch einen „Trick“
verwirrt die Handlung seinen Zuschauer über die Topografie seiner Orte.
Zwar spielt der Film in konkreten Städten, wie Seattle, Shanghai, Dubai
oder Jaipur, doch werden diese durch „die Methode der ‚kreativen
Geografie’“ als Orte unerkennbar: „Dabei werden die Außenansichten oder
Ausgänge eines Gebäudes in einer bestimmten Stadt einfach an Eingänge
oder Innenräume eines Gebäudes in einer anderen Stadt angeschlossen.“
(Presseheft) Mit dieser topografischen Verwirrung korrespondiert eine
babylonische Sprachentwirrung: Auf der ganzen Welt von „Code 46“ wird –
ähnlich wie in Kubricks Dystopie „A Clockwork Orange“ (1973) – eine
Mischsprache aus Englisch, Spanisch und Mandarin-Chinesisch gesprochen.

Diese Verwirrungen kennzeichnen die Städte des Films als „Topos“ im
übertragenen Sinne. Sie stehen nicht für jeweils eine Stadt, sondern
für die Stadt an sich und als solche wiederum für den Begriff der
Metropolis, jener Stadt, die ganz Welt geworden ist. Doch die Städte in
„Code 46“ wachsen und expandieren nicht, wie es der griechische
Ursprung von „Metropolis“ (als Mutterstadt, von der aus Kolonien
entstehen) suggeriert. Die Metropolis von „Code 46“ ist die auf die
Spitze getriebene Vorstellungsstadt Fritz Langs, der 1927 einen
gleichnamigen Film über die Stadt als Ort des Konfliktes zwischen
„Unten“ und „Oben“ inszenierte. Die Vertikalität in der
Stadtsoziosphäre spiegelte sich bei Lang an der Vertikalität der
Stadtarchitektur, durch die er durch seine erste New-York-Reise
inspiriert gewesen ist:

„Die Gebäude erschienen mir wie ein vertikaler Vorhang, schimmernd und
sehr leicht, ein üppiger Bühnenhintergrund, an einem düsteren Himmel
aufgehängt, um zu blenden, zu zerstreuen und zu hypnotisieren. Nachts
vermittelte die Stadt ausschließlich den Eindruck zu leben: sie lebte,
wie Illusionen leben. Ich wusste, daß ich über all diese Eindrücke
einen Film machen mußte.“ (Fritz Lang zit. n. Jansen/Schütte 1976, 94)

Das einzige, was in „Code 46“ von Langs Stadtvorstellung geblieben ist,
ist das nunmehr ausschließliche Nachtleben. Vertikalität bestimmt weder
ihr Aussehen noch ihre soziale Differenzierung.


In weiter Ferne so nah

„Code 46“, der als Science-Fiction-Film gut, als Melodram aber besser
funktioniert, fordert mit seiner unbestimmbaren aber dennoch spürbaren
Nähe zum Jetzt seinen Zuschauer zur Reflexion auf. Darin ähnelt er
vielen perspektivisch verfahrenden Dystopien. Doch das „erhaben
Unangenehme“ von Filmen wie „Blade Runner“ findet sich in „Code 46“
nicht. Hier herrscht ein „vertraut Unangenehmes“ vor. Die Auswüchse der
Biopolitik sind wie die Kluft zwischen „Drinnen“ und „Draußen“ oder die
permanente Überwachung bereits heute zu spüren. Zu offensichtlich sind
diese Phänomene, als dass „Code 46“ dafür als Warnhinweis auftreten
könnte (damit wäre er allenfalls naiv). Nein, die Liebesgeschichte
steht im Zentrum des Films und mit ihr das (Mit-)Gefühl. „Code 46“
fragt, welchen Weg die Emotionen in einer solchen Welt zu gehen haben.

Stefan Höltgen
(mit Dank an Karsten Hertrich)

Bibliografie:

•    Jansen, Peter W. und Schütte, Wolfram (Hgg.): Fritz Lang. München: Hanser 1976. (Film 7)

•    Foucault, Michel: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1977.

•    Foucault, Michel: Vorlesung vom 17. März 1976.

Über Stefan Höltgen

siehe: http://about.me/hoeltgen
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