Am vergangenen Freitag war das ZDF zu Besuch im Signallabor, um dort einen Beitrag zum 35. Geburtstag des Commodore 64 zu drehen. Der Film wird Ende Februar ausgestrahlt (ich werde dann hier darauf noch einmal hinweisen). Der Anlass zeigt aber einmal mehr, wir arbiträr die Anlässe sein können, Technikgeschichte als Wirtschaftsgeschichte umzudeuten. Dazu hatte ich vor ein paar Monaten einmal eine Kolumne in der Zeitschrift RETURN, die ich hier online stelle:
Jubiläen in der Computergeschichte*
Die Torten sind gebacken, die Gäste eingeladen, vor dem Haus steht die Dorfkapelle, hinter ihr schüttelt der Bürgermeiste dem Jubilar die Hand – fotogen unter dem Ehrenkranz mit umrahmter goldener Zahl. Opa wird heute 100 Jahre alt! Das muss groß gefeiert werden, schließlich leben wir (Mitteleuropäer) im Dezimalsystem und heute hat der Jubilar die nächste Zehnerpotenz erklommen. Aller Wahrscheinlichkeit nach wird er den nächsten Übertrag zur Zehn hoch Drei nicht bewältigen, also sollten wir das Erreichte jetzt feiern und alles weitere dann posthum.
Wie zum Beispiel bei Gottfried Wilhelm Leibniz. Im November dieses Jahres erinnern wir an seinen 300. Todestag. Leibniz war das Universalgenie, das uns nicht nur eine frühe, gut brauchbare Rechenmaschine für die vier Grundrechenarten mit automatischem Zehnerübertrag beschert hat, sondern auch noch die Infinitesimalrechnung, das Theodizee-Problem, die Monaden-Philosophie und vieles mehr. Wie würdigt man angemessen die Arbeit von jemandem, die in so vielen Denk- und Zahlensystemen stattgefunden hat?
Bei Computern ist das nicht einfacher: Da feiern wir ihr Auftauchen auf dem (oft US-amerikanischen) Markt, das gemeinhin mit ihrem Alter gleichgesetzt wird. Eine fragwürdige Zuschreibung; schraubt man nämlich beispielsweise die in diesem Jahr und diesem Sinne Dreißig gewordenen Commodore Amiga 1000 und Atari 520 ST auf, findet man darin zahllose Erscheinungsdaten: auf den ICs, auf den Platinen und die vielen unerwähnten Erfindungs- und Herstellungsdaten von Kondensatoren, Widerständen, Dioden, Kabeln, usw. Selbst das Lötzinn wurde irgendwann einmal auf die Rolle gewickelt. Und von außen betrachtet gehören zum Computer noch die Daten seiner Ideengeschichte, technischen Vorläufer und Prototypen, die schon vor dem Marktgang da waren und nicht vergessen werden sollten.
Was darf also das Recht für sich beanspruchen, das Geburtsdatum eines Computers zu sein, wenn dieser offenbar gar nicht am Stück geboren werden? Wollte man eine Menschenzeit als Jubiläumsdatum wählen, wäre das Datum des Erwerbs noch am nachvollziehbarsten … doch davon gibt es viele und die interessieren meistens nur den Käufer selbst. Natürlich ist es trotzdem verlockend, ein „rundes Datum“ als Aufmacher für ein Zeitschriften-Cover zu wählen, am besten mit Pixelkranz und Tortengrafik geschmückt. Schauen wir uns die Umschläge der aktuellen Ausgaben von computerhistorischen Magazinen an, dann fällt der einstimmige Tenor dieser Sichtweise sofort ins Auge. Schon allein deshalb wäre dieses Prinzip einmal zu überdenken!
Wie wäre es mit runden Geburtstagen in für Computer angemesseneren Zahlensystemen – etwa zur Basis Zwei, Acht oder Sechzehn? Damit könnte man nicht nur einen Unterton in den Jubiläums-Chor einbringen, sondern zusätzlich ein bisschen Wissensgeschichte von Computern. Jubilar Leibniz hat nämlich auch das duale Zahlensystem in die Mathematik eingeführt. Dualzahlen boten sich später für die Verwendung in Digitalcomputer an, weil Erfinder und Ingenieure irgendwann einsahen, dass zwei Zustände (ein/aus, oben/unten, offen/geschlossen) technisch viel leichter zu unterscheiden sind als zehn. Schon bei den Rechenmaschinen zu Leibniz‘ Zeiten war das Hauptproblem, wie man zuverlässig mit zehn unterscheidbaren Zuständen (für jede Ziffer einen) rechnen kann. Die technischen Lösungen dafür waren kompliziert und blieben allesamt ungenügend, sobald die Berechnungen die vier Grundrechenarten überstiegen.
Konrad Zuse hatte dann 1936 dieselbe Idee wie im gleichen Jahr (und unabhängig von ihm) Claude Shannon: Auch mit Logik lässt sich rechnen. Logik, wie die beiden sie verstanden, kennt nur zwei Zustände: wahr und falsch. Diese lassen sich mit Schaltern gut automatisieren. Eine mathematische Logik für komplexere Berechnungen existierte dank George Boole auch bereits. Von da an hat es nur wenige Digitalcomputer gegeben, die nicht auf dem Dualsystem basierten (etwa experimentelle russische Ternär-Computer, die es mit drei Zuständen versuchten).
In den 1960ern wurde Digitalcomputern dann das menschenfreundlichere oktale Zahlensystem aufgesetzt: Zahlen zur Basis Acht ließen sich bequem mit Gruppen von jeweils drei Binärschaltern eingeben. Der Architektur dieser 24-Bit-Systeme kam das sehr entgegen. Der Technik der nachfolgenden 4-, 8-, 16-, 32- und 64-Bit-Computer war dann das Hexadezimalsystem besser angepasst: Ziffern von 0 bis F lassen sich einfach in vier Bit breite Päckchen (so genannte Nibble) schnüren. Diese Hex-kodierten Viererpäckchen sind für Menschen und Computer ein guter Kompromiss zum Dualsystem.
Ich finde, diese wechselhafte Geschichte der Suche nach der perfekten mathematischen Basis für Rechenmaschinen und Computer als Basis angemessener als die Frage, vor vielen zig Jahren jemand begonnen hat Geld mit ihnen zu verdienen! Computergeschichte ist nämlich am allerwenigsten Menschengeschichte – im Gegenteil: Sie bietet Menschen die Chance eine Welt zu betreten, die ihre ganz eigenen Denk- und Rechengesetze hat. 8-Bit-Assembler-Programmierer wissen das besser als die Coder jüngerer Systeme mit deren an Menschen besser angepassten Programmiersprachen. Die Welt der Computer ist uns fremd und wir sollten diese Fremdheit als Herausforderung verstehen, sie genau zu ergründen … anstatt ihre ökonomischen Erfolge im Dezimalsystem zu vergolden. Insofern: Vor 2 hoch 6 Jahren kam der erste 16-Bit-Computer mit integriertem Aschenbecher und angeschlossenem Kino auf die Welt … das sollten wir feiern!
* Dieser Text ist zuerst in der Zeitschrift RETURN (Ausgabe 25, Frühjahr 2016) erschienen. Mit dem Kolumnen-Titel „Old Bits“ möchte ich an den 2015 Jahr verstorbenen Computersammler und Kollegen Frank Salomon erinnern.