Speicher im Schatten

Gestern war ich nun endlich und zum ersten Mal in einer Veranstaltung der Medienwissenschaft der Berliner HU – auf einer Soirée, die Prof. Wolfgang Ernst gleich anlässlich zweier historischer Anlässe vor 80 Jahren gab: Der eine war der „Pariser Tonfilm-Frieden„, bei dem eine Einigung über das zukünftig verwendete Tonfilm-Verfahren stattfand und der Tonfilm damit international werden konnte (worauf gestern mit einem Glas Sekt angestoßen wurde). Der andere Anlass war die Eröffnungsrede Albert Einsteins auf der Berliner Funkausstellung im Jahr 1930, die als ein Begründungsereignis der Medienwissenschaft (avant la lettre) anzusehen ist.

Im Zentrum der Soirée stand ein Zeitzeuge beider Ereignisse, Prof. Horst Völz, der die Einsteinrede „miterlebt“ hat (wenngleich als 1930-Geborener vielleicht auch nicht bewusst) und der auch jetzt noch an der TU und der HU (dort mit einem Seminar über „Speichern als Grundlage der Medienwissenschaften„) tätig ist. Das zentrale Arbeitsthema Völz‘ als Informationstheoretiker ist das Phänomen des Speicher(n)s – aus sowohl technischer wie auch medienkultureller Perspektive. Völz hat zahlreiche Bücher und Einzeltexte dazu verfasst und sieht im Speicher den „zentralsten Begriff für die gesamte Informatik und Kultur“ – und damit hat er durchaus nicht Unrecht. Selbst wenn, so Wolfgang Ernst, elektronische Informationsverarbeitung aufgrund der Rechengeschwindigkeiten heute instantan zu erfolgen scheint: Speicherung von Daten findet auch dort noch statt – ja, kein Computer könnte ohne Speicher funktionieren. Nicht zu schweigen natürlich von den Massenspeichern, deren Kapazitäten gerade aufgrund des enormen Preisverfalls der letzten Jahre keine Grenzen mehr zu haben scheinen. Gespeichert werden kann heute jede Information – und besonders „leicht“ diejenige, die elektronisch kodiert vorliegt.

Im Gespräch zwischen Völz, Ernst und dem Technischen Informatiker Frank Winkler kamen aber nicht nur die von den akademischen Wissenschaften leider immer noch marginalisierte Bedeutung und Stellung des Speicher(n)s zur Ansprache, sondern insbesondere auch die vielfältigen Probleme, die technische Speicherung mit sich bringt: Hier gesellt sich zur technischen Frage (technische Abrufbarkeit von gespeicherten Informationen) auch eine politische: Völz hat sich mehrfach für eine totale Freiheit der Informationen für Kultur und Bildung ausgesprochen und damit insbesondere der zunehmenden Ökonomisierung gespeicherter Daten durch Konzerne und Verwertungsgesellschaften widersprochen.

Massives Speichern besitzt aber auch ein intrinsisches Problem: Inwieweit bedingt die freie Verfügbarkeit von Speicherkapazität und die damit verbundene hohe Informationsquantität auch einen Qualitätsverlust? Welche Information ist wertvoll, welche weniger wert? Wer kann entscheiden, was qualitativ hochwertige und geringerwertige Information ist? Insbesondere in der Forschung zeige sich Völz zufolge ein massiver Qualitätsverlust: Arbeiten, die ohne Berücksichtigung der Quellenqualität nur noch aus dem Internet zitieren, Buchverlage, der aus Kosten- und Zeitgründen keine Lektorate mehr durchführen … auf der anderen Seite aber auch Wissensspeicher wie „Wikipedia“, die gerade durch ihre Offenheit ein in der Gutenberg-Galaxis noch ungeahntes Maß an Qualität produzieren. Techniken wie das Data Mining sind seit Jahren hoch im Kurs, um genau diese Frage nach der Selegierbarkeit von Informationen zu klären – ob sie sich jemals automatisieren lassen, ist allerdings bezweifelbar. Völz sieht zusätzlich das Problem, dass zwar Texte, nicht aber gespeicherte Bilder und Filme nach beliebigen Kriterien durchsuchbar sind: Er überlegt selbst seit langer Zeit, welches Kodierungsverfahren solche Medien auch ohne nachträgliche Verschlagwortung für Suchen transparent machen könnte.

Für mich hat sich im Zuge der Diskussion über Speicher(n) als Technik und kulturelle Praxis sofort die Frage nach dem Standort des Menschen im Speichersystem  gestellt – und damit die schon von Nietzsche („Zum Handeln gehört Vergessen.„) hervorgehobene Kulturtechnik des Vergessens. Mittlerweile existieren Bemühungen, technische Systeme mit der Fähigkeit des Vergessens auszustatten: Redundante, selten abgerufene oder speziell markierte gespeicherte Informationen sollen verblassen, quasi „erodieren“ können, um Datenbank-Abfragen zu beschleunigen. Hinter dieser praktische Relevanz verbirgt sich aber ebenso ein politischer Aspekt: Ein technisches Gedächtnis erscheint als ewig, Informationen aus ihm zu entfernen, macht es „menschlicher“ und für Menschen lebenspraktischer, weil es einem falschen Bild von Stabilität den Progress entgegenstellt, der eben nur mit dem Vergessen, der Erinnerungsselektion und dem Falscherinnern möglich wird. Dass das auch ganz zentrale Relevanz für die Abrufbarkeit von Informationen aus dem Internet hat, ist gerade ein viel diskutiertes Thema.

Am Rande der Veranstaltung berichtete Völz viel Interessantes aus seinem Forscher- und Techniker-Leben – insbesondere seine Mühen mit dem Wissenschaftssystem in der DDR bei der Gründung des „Instituts für Kybernetik und Informationsprozesse“ und davon, dass er wohl als erster Bürger der DDR einen Homecomputer besessen hat, den er Anfang der 1980er Jahre an der Grenzkontrolle vorbei schleusen konnte. Es handelte sich um den „Sorcerer“ von Exidy – einen Z80A-Rechner, auf dem Völz zahlreiche Programme entwickelte, die dann auf den Z80-Nachbauten (U880) der Robotron-Rechner KC-85 und KC-87 liefen: Textverarbeitungen, Sortierroutinen, Grafikprogramme, … Letztere nutzte vor allem auch seine Frau zu Erstellung von auf einer Typenrad-Schreibmaschine ausgedruckten „ASCII-Arts“ (zumindest einer Vorform davon).

Hinweisen möchte ich zum Schluss auf die Publikationsliste Völz‘, insbesondere die über seine Homepage abrufbaren PDF-Dokumente und sein Buch zum Thema „Computer und Kunst“, das er 1987 in der DDR publiziert hat und das ebenfalls als PDF verfügbar ist. Ich hatte mit dem Handy ein paar Fotos der Podiumsdiskussion gemacht, da diese jedoch – sozusagen titelgerecht – weitgehend im Schatten, beleuchtet von einer kleinen Stehlampe stattfand, sind sie verwackelt und körnig: Weil genau  darin aber auch einer der Themenschwerpunkte verbildlicht wird, zeige ich hier dennoch eines davon:

v.l.n.r.: Dr. Frank Winkler, Prof. Dr. Horst Völz, Prof. Dr. Wolfgang Ernst

Über Stefan Höltgen

siehe: http://about.me/hoeltgen
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Eine Antwort zu Speicher im Schatten

  1. Da muss ich gleich mal selbst mit einem Link kommentieren: http://www.heise.de/tp/blogs/3/147553

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