Alice doesn’t live anymore …

Lake Mungo (Australien 2008, Joel Anderson) (DVD)

Ich hatte „Lake Mungo“ bereits auf dem Fantasy-Filmfest gesehen und dort als den besten Beitrag des Festials gewertet. Durch einen Zufall habe ich kürzlich entdeckt, dass der Film mittlerweile als australische DVD erhältlich ist, ihn nun gestern noch einmal gesehen und schließlich sogar als meinen den besten Film, den ich letztes Jahr zu sehen bekommen habe, empfunden. Besonders zwei Aspekte haben mich gestern noch einmal richtig beeindruckt:

„Lake Mungo“ weicht nicht nur dadurch von einer herkömmlichen Spielfim-Dramaturgie ab, dass er ein gefakter Dokumentarfilm ist – vielmehr ist es die Komplexität seines Plots, die den Unterschied ausmacht. Die markanteste Differenz zwischen Filmerzählungen und Geschehnissen in der Wirklichkeit bilden vor allem die Facetten und Redundaz-Armut des herkömmlichen Spielfilms. Zumeist beschränkt er sich auf einen streng kausal konstruierten Plot mit nur wenigen Seitenerzählungen. Aber jede „normale“ Anderthalbstunde im richtigen Leben zeigt schon, dass es in Wirklichkeit wesentlich komplexer zugeht als im Film. „Lake Mungo“ versucht seine Authentizität unter anderem dadurch zu konstruieren, dass er sich der Emergenz des real life stark annähert, indem er etwa Anekdoten, Lügengeschichten und scheinbare Nebensächlichkeiten zusammen mit dem, was die Story konstruiert, gleich gewichtet.

Dieser Eindruck von Gleichgewichtung – und das war der zweite verblüffende Punkt – wird vom Film dadurch erreicht, dass er seine Geschichte offenkundig nacherzählt und damit das „ex post“ des filmischen Erzählens und Rezipierens thematisiert. Die Kamera kann bei den Originalereignissen nicht dabei gewesen sein; sie kann z. B. nicht gefilmt haben wie die Mutter zum letzten Mal zum „Psychic“ geht und mit ihm dort zufällig das eigentliche Geisterphänomen (das ans Haus gekoppelt ist) ergründet – eben weil, als dies passiert ist, noch gar nicht klar gewesen ist, dass es eine „filmenswerte Szene“ sein würde. Sie tut es aber: Sie zeigt den Mann, der die Sceance in wohlformulierten Sätzen beginnt, zeigt die Mutter weinend – nur um diese Bilder im nächsten Augenblick als nachgestelltes Material mit dem Original-Footage, das wesentlich authentischer (weil weniger filmisch strukturiert – siehe oben) wirkt, zu kontrastieren. „Lake Mungo“ stellt sich permanent als „nachträglich rekonstruiert“ heraus und wirkt dadurch, dass er seine dokumentarische Unaufrichtigkeit betont, nur noch aufrichtiger. Hier kommt ihm die oben angesprochene Emergenz sozialer Handlungen sehr entgegen, weil es ihm gelingt, seine Beiläufigkeiten bis zum Ende nicht als die eigentlichen Plot-Konstituenten zu desvouieren. (In vielem ähnelt er ohnehin dem anderen großen „Lake“-Dokumentarfilm „Incident at Loch Ness„.)

Das lässt sich vielleicht schwer nachvollziehen, wenn man den Film noch nicht gesehen hat, dürfte aber schnell als das zentrale Erzähl- und Darstellungsprinzip klar werden, wenn man ihn dann sieht – was ich nur jedem empfehlen kann!

Über Stefan Höltgen

siehe: http://about.me/hoeltgen
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