Minority Report

Milk (USA 2009, Gus van Sant) (PV Filmkunst 66)

Was meinen Geschmack betrifft, ist es bei Gus van Sant wie bei Steven Soderbergh: Es gibt solche Filme und solche. Das filmästhetische Gespür, der Hang zum Subversiven (oder eben zum Unpopulären) lässt sich wohl nicht immer ausleben; erst recht nicht, wenn man meint, eine zeithistorische Darstellung vollbringen zu müssen. Genau das ist „Milk“: Der Versuch, einen Spielfilm über ein Historem zu drehen, dabei möglichst alle Fragen zu beantworten und keine Position zu beziehen. Das ist genauso unmöglich wie dumm, doch davon hat es in den vergangenen Jahren so viele Filme gegeben, dass sich leider schon ein eigener Stil durchgesetzt hat, den man mit Baudrillard ganz gut als „Retro-Szenario“-Ästhetik bezeichnen kann.

Und die sieht so aus, dass man sich der historischen Quelle unterwirft, sie „wahrheitsgemäß“ ins Projektorlicht zu zerren versucht, indem die verschiedensten Techniken und Strategien der Authentisierung zum Einsatz kommen: Eingeschnittenen Originalfilmaufnahmen, auf das Zeitcolorit bearbeitetes Filmmaterial, Dokumentarfilmästhetiken usw. In „Milk“ sieht also alles nach „Mitte bis Ende der 70er“ aus. Den Mut, sich dieser Konvention zu widersetzen, bringt Gus van Sant nicht auf – dazu scheint ihm (wie schon beim unsäglichen „Good Will Hunting“) das Thema zu wichtig zu sein. Es geht um die Homosexuellen-Bewegung in den USA, die sich unter der Anführung von Harvey Milk zum ersten Mal Gehör verschafft hat, politischen Ausdruck gefunden hat, ihre Bürgerrechte eingefordert hat.

Das Thema ist so wichtig (oder wird von irgendwoher mit derartigen Argusaugen bewacht), dass sich ein Filmemacher hüten sollte, es auch nur mit einer Spur ästhetischer Mehrdeutigkeit zu inszenieren. Also sind die einzigen filmkünstlerisch interessanten Momente, diejenigen, die eine ganz eindeutige Symbolik haben – ein paar kleine Spiegelszenen (in einer Trillerpfeife, in einer Fernsehmattscheibe usw.) Der Rest des Film ist Historienkitsch mit dem Hang und dem Zwang zur Aufklärung, überladen mit politischer Bedeutung. Qualitätskino wie schon Finchers „Zodiac“ und etliche andere Produkte dieser Art. Gus van Sant scheint hier mehr auf die Anerkennung irgendwelcher politsch korrekter Festival-Jurys zu schielen als auf künstlerische Integrität. „Milk“ schreit nach Oscars und wird sie bekommen – weil er sie verdient hat.

Über Stefan Höltgen

siehe: http://about.me/hoeltgen
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3 Antworten zu Minority Report

  1. Thomas sagt:

    Ich bezweifle jetzt einmal, dass es van Sant an Mut mangelt. Er ist sich wohl vielmehr einfach bewusst, dass ein künstlerisch anspruchsvollerer Film eben nicht nur geringere Aussichten auf Oscars hat, sondern vor allem auch nicht gleich viele Besucher anziehen kann. Die Entscheidung ist daher nicht mutlos, sondern einfach berechnend. Darin sehe ich nichts verwerfliches. Schliesslich erlauben es ihm solche Filme (Milk, Good Will Hunting, Finding Forrester) überhaupt solche (Paranoid Park, Gerry, Elephant) zu machen.

  2. Da gebe ich dir Recht. Dennoch folgt aus solchen „Berechnungen“ ja notwendigerweise auch Enttäuschung bei denjenigen, die nicht einen „Finanzierungs“-, sondern einen „ehrlichen“ Film erwarten. (Mir fallen keine besseren Bezeichnungen ein.) Vielleicht sollte man es einfach drüber schreiben – vielleicht sollte ich aber auch lernen, die Anzeichen für „Finanzierungsfilme“ zu erahnen.

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