Die Allmacht des Blickes

Das Millionenspiel (D 1970, Tom Toelle) (DVD)

Ein atemberaubend luzides Werk. Toelle und sein Drehbuchautor Wolfgang Menge nehmen nicht nur die meisten denkbaren (und bislang erschienenen) Medien-Dystopien vorweg, sie beschreiben 1970 ein Fernseh- und Gesellschaftssystem, das heute (fast) schon Realität ist.

Interessant ist der Konflikt zwischen diegetischer und nicht-diegetischer Kamera. Etliche Szenen, in denen man meint, den Spielfilm „Millionenspiel“ zu sehen, bekommt man die Fernsehsendung zu Gesicht und die Aufnahmen des Spielers sind von einem immer schon vor Ort wartenden Kamera-Team gefilmt und im Studio dem Publikum auf einer Leinwand präsentiert. Dieses „Einholen“ des Ereignisses durch die Kamera erreicht manchmal einen zeitlichen Minimalabstand, der schon fast unwahrscheinlich wirkt: Der Spieler versteckt sich in einer leeren Wohnung – in der ihn schon unser Blick (also der Blick des diegetischen Publikums, als die diegetische Kamera) erwartet.

Der Kamerablick ist immer und überall. Selten sieht man die Technik und selbst dort, wo sie zu sehen sein müsste (etwa, als eine „Samariterin“ den Spieler vor den Verfolgern in einem Cabrio rettet und das alles von dessen Rückbank aus gezeigt wird), ist sie unsichtbar, ist nur der Blick selbst da. Das ist kein Fehler, sondern eine „Vision“: Die Utopie der Allgegenwart des Fernsehens, in der derjenige als unglücklich beschrieben wird, der (noch) anonym leben (muss), ist hier als allgegenwärtiger Zuschauerblick codiert. Ein Blick, der keine Technik braucht, weil er physikalisch gar nicht vorhanden sein muss, denn man spürt ihn, weil man sich nirgends mehr unbeobachtet fühlen kann.

Über Stefan Höltgen

siehe: http://about.me/hoeltgen
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