Ich töte also bin ich.

David Cronenberg erforscht in „A History of Violence“ die Wechselwirkungen von Gewalt und Identität

In „A History of Violence“ wird dargelegt, welchen Einfluss die Ausübung und Vermeidung von Gewalt auf die individuelle Entwicklung der Figuren hat – bis hin zur Findung der eigenen Identität. David Cronenberg führt damit die Betrachtung aus seinen früheren Filmen fort, jedoch unter für ihn völlig neuen ästhetischen Prämissen.

 

Angeblich sind es die Extremsituationen, die uns vor Augen führen, wer wir eigentlich sind. Diese Weisheit wird besonders im Kino oft kolportiert. Extremsituationen werden für die Protagonisten zu Momenten der Selbstfindung. Zuletzt hat dies Paul Haggis in „L.A. Crash“ vorgeführt. David Cronenbergs „A History of Violence“ geht noch einen Schritt weiter: Er macht die Extremsituation gleichermaßen zu einem Moment der Selbstfindung und Selbstzerstörung. Im Zentrum sitzen dabei wir, die Zuschauer, und sind gezwungen über unsere Sympathie- und Antipathiebilanz eine eigene Haltung zu den Schrecken auf der Leinwand zu finden.

Der Coffeeshop-Wirt Tom Stall (Viggo Mortensen) führt ein ruhiges und beschauliches Leben in der Kleinstadt Millbrook (Illinois, USA). Mit seiner Frau Edie (Maria Bello) verbindet ihn eine tiefe und leidenschaftliche Beziehung. Seine kleine Tochter Sara (Heidi Hayes) liebt ihn über alles, seinem Sohn Jack (Ashton Holmes) hat er seine menschenfreundliche und pazifistische Haltung mit auf den Lebenswerg gegeben; so sehr Jack auch von seinen Mitschülern provoziert wird, er weicht jeder Gewalthandlung aus und steht lieber als Loser da. Als eines Abends zwei polizeilich gesuchte Serientäter den Coffeeshop überfallen und Kunden wie Angestellte mit Waffen bedrohen, überwältigt Tom beide und streckt sie mit äußerst souverän angewandter Gewalt nieder. Mit dieser Tat zum „Local Hero“ avanciert, ändert sich Toms und das Leben seiner Familie von Grund auf. Die Medien sind ihm auf den Fersen und im ganzen Land wird sein Bild im Fernsehen übertragen.

Kurz nach der Heldentat tauchen drei zwielichtige Gestalten in Millbrook auf und scheinen es auf Tom abgesehen zu haben. Der halb blinde Gangsterboss Carl Fogerty (Ed Harris) unterstellt Tom, er kenne ihn aus Philadelphia. Dort habe er unter dem Namen Joey als Berufskiller und perverser Gelegenheitsmörder gelebt. Fogerty hat mit diesem Joey, den Tom gar nicht zu kennen behauptet, eine Rechnung offen: Er will Rache für sein verunstaltetes Gesicht. Und weil Sam strickt abstreitet etwas mit der Sache zu tun zu haben, beginnen Fogerty und seine Leute Toms Familie zu bedrohen. Als Jack von Fogerty entführt wird und nur unter der Bedingung frei kommt, dass „Joey“ mit zurück nach Philadelphia komme, entlädt sich die Gewalt ein zweites Mal und bedroht Toms gesamte Existenz.

Local Hero

Cronenbergs Protagonisten sind stets Einzelgänger gewesen. Von der Gesellschaft missverstanden oder durch eine psychische oder physische Besonderheit ausgegrenzt, waren sie immer auf der Suche nach sich selbst. Diese Suche wurde zumeist als Leidensweg beschrieben, von Gewalt gesäumt und mit Gewalt beendet. Ob Cameron Vale (Stephen Lack) 1980 in „Scanners“ seine Isolation in der Verschmelzung mit seinem Bruder Deryl Revok (Michael Ironside) beendet hat, ob John Smith (Christopher Walken) in 1983 „Dead Zone“ den Sinn seiner hellsichtigen Begabung im Attentat auf den wahnsinnigen Präsidentschaftskandidaten Greg Stillson (Martin Sheen) gefunden hat oder ob Max Renn (James Woods) im selben Jahr sein sadomasochistisches Coming Out in der Teilnahme an einer Snuff-Show zelebriert hat: Immer konnten Cronenbergs Helden ihr Ziel nur erreichen, indem sie sich dabei selbst zerstören – ihre Identität finden und im selben Moment aufgeben.

Dieses grundsätzliche Dilemma ist auch Thema in „A History of Violence“. Es ist ganz egal, ob Tom nun jener gesuchte Joey ist oder nicht; je mehr, je intensiver und je gewalttätiger er sich der Rolle des mächtigen und zerstörerischen Killers verweigert, desto mehr schlüpft er in sie hinein. Mit einer Zwangsläufigkeit und Finalität, die sich im den Titel bestimmenden „History“ bereits andeutet, wird aus Tom Joey – ob er es will oder nicht. Denn seine Umwelt, die ihn gleich zwei Mal hintereinander als Held feiert, kann die Augen vor der Brutalität der ersten Heldentat vielleicht noch verschließen, weil sie allein im Zeichen der Rettung Unschuldiger stand. Bei der zweiten Detonation der Brutalität, in der es nur noch um Tom und seine vorhandene oder nicht vorhandene „Vergangenheit“ ging, gelingt dies nicht mehr. Toms Familie beginnt zu zweifeln, der Sheriff stellt unangenehme Fragen und als sei der Ausbruch der Gewalt ein Beben, das sich mit seismischen Wellen verbreitet, werden bald neue, weit entfernte Figuren auf Tom aufmerksam.

Genauso irrelevant wie die Frage, ob Tom nun Joey ist oder nicht, ist uns Zuschauern zunächst die Frage von Ursache und Wirkung der Gewalt, von ihrer sozialen Dimension innerhalb der Familie oder des Ortes Millbrook. Cronenberg hat uns mit der Charakterisierung Toms, der Darstellung seines friedlichen Lebensumfeldes und nicht zuletzt der Identifikation seiner bürgerlichen Existenz von Beginn des Films an auf seine Seite gezogen. Wir „verstehen“, warum Tom auf die Weise handelt wie er es tut. Wir billigen das übergroße Maß an Brutalität, mit der er die beiden Gangster zu Beginn umbringt, die angesichts der Skrupellosigkeit der Killer (im Prolog werden wir Zeuge, wie beide eine ganze Familie kaltblütig auslöschen) absolut notwendig, ja fast ein „gerechter Ausgleich“ ist. Und wenn sich Fogarty und seine Leute an die unschuldige Familie Toms heran machen, sind wir die letzten, die nicht nachvollziehen könnten, warum Tom seine Leute schützen will.

Family Guy?

Ganz subtil hat uns Cronenberg also über die Identifikation mit Tom mit der Frage konfrontiert, wie Gewalthandlungen argumentiert sein müssen, damit wir sie gutheißen, was also „gutes“ und was „schlechtes“ Töten ist. Dass sein Protagonist im Laufe des Films mit einer Engelsmiene die brutalsten Taten begeht (die Cronenberg ganz in der Tradition seiner Filmografie schonungslos und in Großaufnahme ins Bild rückt), stört gar nicht. „Ein Mann sieht rot“ und wir sehen es mit ihm. Doch hintenrum werden die Folgen der Gewaltnormalisierung nach und nach unübersehbarer. Zuerst ist es Jack, der aus der Rolle des Opfers flieht. Als er nach der ersten Heldentat seines Vaters von seinem Mitschüler provoziert und herumgeschubst wird, entlädt sich sein Zorn in einem für alle anwesenden unfassbaren Gewaltausbruch. Sein Vater stellt ihn zur Rede: „In dieser Familie lösen wir unsere Probleme nicht, indem wir andere schlagen.“ Woraufhin Jack entgegen hält: „Nein, wir erschießen sie.“ Dass er von seinem Vater wegen dieser Antwort ins Gesicht geschlagen wird und dieser damit seine zuvor verabsolutierte Regel ad absurdum führt, ist die erste Vorahnung vom Toms Identitätswechsel.

Aber auch die übrige bürgerliche Fassade in Toms Leben bröckelt zusehends. Hauptindikator für diese war die Beziehung zu Edie, geprägt von intimer Nähe. Je sich mehr der Verdacht über die mörderische Vergangenheit Toms zwischen die Eheleute drängt, desto stärker wird auch ihre Beziehung davon affiziert. Der leidenschaftliche Sex, dessen Zeuge wir zu Beginn des Films werden, kulminiert in einem vergewaltigungsartigen Zusammenstoß der beiden auf der Treppe. Diese Szene scheint der Anfang vom Ende des Familienlebens im Hause Stall zu sein. Danach spaltet sich die Familie und das, was wir zu Beginn des Films als willkommenen Anlass der Protektionsgewalt angenommen haben, existiert nicht mehr. So stehen wir schließlich nicht nur vor dem Scherbenhaufen einer bürgerlichen Existenz, sondern auch vor den Trümmern unserer eigenen Argumentationskette.

Geschichte(n) und Gewalt

In „A History of Violence“ ist es David Cronenberg gelungen, die filmischen Stereotype, die über Gewaltenstehung und -eskalation existieren, mit den Mitteln des Films selbst zu hinterfragen. Von der Dramaturgie über die Charakterisierung der Figuren bis hin zur Art und Weise, wie die Gewaltausübung nicht als Action (schnelle Schnitte), sondern als dokumentarische Zeugenschaft (Kameraschwenks) inszeniert wird, ist alles an Cronenbergs Film ein Vexierbild dessen, was wir an filmischer Gewaltdarstellung kennen. „A History of Violence“ ist dabei zu keiner Zeit didaktisch, er arbeitet nicht auf eine Pointe hin (die Plotwendung im Zentrum des Films ist ganz sicherlich nicht das zentrale Moment der Erzählung), ja, er hat nicht einmal ein Finale. Er lässt seine Geschichte einfach „absterben“, die Gewalt ins Nichts verebben, so wie sie aus dem Nichts entstanden ist.

Dass das so überzeugend funktioniert, ist neben dem großartigen Drehbuch vor allem die Leistung Viggo Mortensens. Sein präzises Spiel des sanftmütigen Tom bestimmt jede Szene. Seine Figur verliert selbst in Szenen übergroßer Brutalität kaum von ihrer engelhaften Ausstrahlung. Einzig Angst lässt er sich anmerken. Dieses „gegen den Strich“ gespielte Acting ist der Dreh- und Angelpunkt unserer Identifikationsbereitschaft mit der Figur. Die Inszenierung, allem voran die umsichtige Montage, die vor allem in den Kampfsequenzen nicht aus dem Auge verliert, dass es „die Ruhe zu wahren“ gilt, unterstützt die Wirkung auf uns zusätzlich.

Die Art und Weise, wie das Phänomen „Gewalt“ im Kino der vergangenen Jahre aspektiert wurde, unterscheidet sich deutlich von der Zugangsweise, die Cronenberg uns hier anbietet. War das Augenmerk häufig auf die Frage nach den Gründen, mithin den Einflussfaktoren von Gewalthandlungen gerichtet und dabei die Medien als besondere Agenten ausgemacht (die Spur reicht von Cronenbergs „Videodrome“ über Hanekes Filme bis hin zum Insider-Hit „Battle Royale“), so scheint sich derzeit eine neue Zugangsweise zu etablieren.

Filme wie Tomas Vinterbergs „Dear Wendy“ und nun auch „A History of Violence“ versuchen die destruktiven und „konstruktiven“ Facetten der Gewalt zu ermitteln; zentral dabei ist die Frage nach der Identität der Täter. So wie sich bei Vinterberg die Jugendlichen erst zu selbstbestimmten und sozial verantwortlichen Bürgern entwickeln, als sie ihre Pazifismus mit Waffengewalt untermauern, so finden auch Tom und sein Sohn Jack in Cronenbergs Film erst zu sich selbst, als er seine zwanghaft pazifistische Existenz aufgibt. Die Identifikation und Entwicklung des Selbstbildes wird in beiden Filmen über die Ausübung von Gewalt erreicht. Das ist jedoch keine verknappende, zynische Perspektive, die die Täter stilisiert und die Opfer marginalisiert, sondern in beiden Filmen korreliert die Zerstörung des Sozialen (Vinterberg) und des Privaten (Cronenberg) mit der Entstehung des Individuums.

Bei Vinterberg ist diese Dialektik noch im abstrakten, virtuellen Raum eines ausgedachten Ortes verankert, in ihrem Schematismus leicht rationalisierbar. Cronenberg tritt mit seinem Film einen Schritt näher an den Zuschauer heran und will ihn Anteilnehmen lassen. Wir fiebern mit Tom und stellen zum Ende resigniert fest, dass er zur Komplettierung seines Selbstbildes „über Leichen gehen“ musste. Der Film lässt uns mit dieser zweifelhaften Notwendigkeit allein, zumal die Schlussbilder – trotz all der Resignation, die sie ausstrahlen – zu bestätigen scheinen, dass sein Prinzip erfolgreich war.

Stefan Höltgen

Über Stefan Höltgen

siehe: http://about.me/hoeltgen
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