Kinder

Gestern Abend habe ich noch zwei hervorragende Spielfilme zum Thema „Verlorene Kindheit“ gesehen:

Mouth to Mouth (GB/D 2004, Alison Murray)

Alison Murrays Film ist gleichzeitig eine Studie über die perfiden
psychologischen Mechanismen von Sekten wie ein Experiment mit dem
Zuschauer, das diesem klar macht: Es ist eben nicht einfach eine Frage
kühler Rationalität, ob man Herr über sich selbst bleibt oder nicht.
Erscheint die Wirklichkeit nur ein bisschen freundlicher, verschwinden
die Drangsale des Alltags und wird dann noch die Vernunft selbst
angesprochen, sind alle Zweifel schnell verwischt. Die Dynamik der
Gruppe mit ihren gescheiterten aber ganz normalen jungen Menschen ist
auf beklemmende Weise inszeniert. Dass dabei das Wort „Sekte“ zu keiner
Zeit fällt, gehört genauso zum Kalkül des Drehbuches wie, dass nie
etwas wirklich schlimmes passiert – bis zu einem Todesfall in der
Peripethie des Films. „Mouth to Mouth“ führt seinen Zuschauer auf allen
Ebenen in „Versuchung“ und ist damit gleichzeitig eine hervorragende
Studie wie ein Lehrstück.


Certi Bambini
(Italien 2004, Andrea & Antonio Frazzi)

„Certi Bambini“ zeichnet aus, dass er keinerlei moralische Stellung zu
seinen Protagonisten einnimmt. Die Alltäglichkeit, mit der etwa
Kinderprostitution, Mord und Missbrauch inszeniert wird, ist
erscheckend, frappiert den Zuschauer jedoch nicht. Grund dafür ist,
dass die Figuren des Films stets (realistisch) ambivalent bleiben. Die
Wiederbelebung neorealistischer Erzählweisen ist hier nicht nur
erfreulich, sondern auch zweckmäßig. Der Wechsel von Leichtigkeit und
Dramatik steht ganz im Dienst der Charakterierung der Lebensumstände
der Hauptfigur, die keine Perspektive hat, sich aber darüber aber auch
nicht sorgt. Mit dieser Indifferenz des Einzelnen, die sich in der
Darstellung der Stadt und ihrer Menschen verdoppelt, gelingt ihnen
einer der hervorragendsten und ambitioniertesten Beiträge des
italienischen Kinos dieser Tage.

Über Stefan Höltgen

siehe: http://about.me/hoeltgen
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