Kurz nach der Sichtung von „Ensayo de un Crimen“ habe ich eine Frage
wieder aufgegriffen, die mich schon vor einiger Zeit bewegt hatte: ob
die strukturelle Ähnlichkeit von Fiktion und Erinnerung als
literaturwissenschaftliches Konzept darstellbar ist. Durch meinen
Dotorvater wurde ich auf die Idee gebracht, den „problematischeren“
Teil der Frage – nämlich den psychologischen – zu untersuchen.
Zunächst habe ich da bei Freuds „Der Mann Moses“ (nationale
Identitätsstiftung über Mythen-Narration) und „Zur Deckerinnerung“
(Narrativität der Erinnerung als Hinweis auf Verschiebung) nachgelesen.
Dann ist mir jedoch ein Autor wieder eingefallen, den ich im Rahmen
meines Studiums (Psychologie als freiwilliges Nebenfach) einmal kennen
gelernt hatte: Kenneth J. Gergen. Der hat ein Buch mit dem Titel „Das übersättigte Selbst“
geschrieben, in dem es um Identitätskonstruktion in der „krisenhaften
Spätmoderne“ (eine Beck-Paraphrase für „Postmoderne“ :-D) geht.
Die Fragestellung Gergens wird vom „Narrationspsychologen“ Wolfgang Kraus in einem sehr spannenden Artikel über „Identität als Narration“ umrissen und ausgebaut.
In drei Schritten untersucht Kraus die Frage, wie sich in/trotz der
Postmoderne, welche sich vom Konzept der Identität verabschiedet hat, die
Konstruktion von Identität als denken lässt. Zunächst verschränkt er
die Befunde zur Postmoderne mit denen der Identitätspsychologie
und stellt die Identitätskonzepte von Moderne und Postmoderne einander
gegenüber.
Organisierte Moderne |
Krisenhafte Spätmoderne |
Platzangebot durch wirtschaftliches Wachstum, Berufswahl als Lebensentscheidung |
kein Angebot, strukturelle Arbeitslosigkeit, 2/3-Gesellschaft, Berufswahl ganz sicher nicht endgültig |
national, klassenbezogen |
Auflösung von Nations- und Klassenbezug, Tribalisierung (Maffesoli, 1988) |
Individuum im Wohlfahrtsstaat |
Individuum als unternehmerisches Selbst |
Identität als Leistung, Ergebnis, Achievement |
Identität als Prozeß |
Zukunft ist möglich, lebbar, planbar im Rahmen der gesellschaftlichen Angebote |
Planungszeiträume schrumpfen, biographische Entwürfe haben eine kurze Lebensdauer |
Im zentralen zweiten Kapitel widmet er sich Gergens Konzept der
„narrativen Identität“ und diskutiert dessen fünf „Konstruktionsregels
für Selbsterzählungen:
- Ein sinnstiftender Endpunkt:
Jede Erzählung muss zielgeleitet sein. Das Ziel der Erzählung soll(te)
Sinn stiften. „Aus Sicht der krisenhaften Spätmoderne wäre [aber] zu
fragen, ob eine Selbsterzählung, der es an Zielklarheit mangelt, nicht
darauf reagiert, daß diese Aufgabe nur noch schwer zu erfüllen ist.“
(S. 7) - Die Eingrenzung auf relevante Ereignisse: Es sollten
nur zentrale Aspekte der „gesamten Lebensgeschichte“ erzählt werden,
solche, die dem Ziel der Erzählung untergeordnet sind. Viele
Geschichten (z.B. Lebensmomente, in denen man gerade „steckt“) sind jedoch
unfertig. Dies Prozesshaftigkeit muss strategisch erzählt werden. Die
Erzählrelevanz benötigt ein „stabiles Verständnisuniversum“ (S. 7), in
dem Übereinstimmung zwischen Erzähler und Rezipient über die Relevanz
eines Ereignisses für den „Fortgang der Handlung“ hergestellt werden
kann. - Die narrative Ordnung der Ereignisse: Dieser Punkt
berührt im Wesentlichen die temporäre Struktur der Erzählung. Hier ist
„Lückenlosigkeit“ gefragt (etwa in der Arbeitswelt bei
Berufsbiografien) und eine souveräne Erzähl-/Erlebensposition, die die
Abfolge der Ereignisse selbst bestimmen kann. Es existieren
zahlreiche Muster für chronologische Selbsterzählungen, die an
Konventionen gebunden sind (Abolge von Heirat und Schwangerschaft, …) - Die Herstellung von Kausalverbindungen: „Jedes
Ereignis sollte ein Produkt des vorangegangenen sein. In dem Maße, wie
Ereignisse innerhalb einer Narration in einer interdependeten Form
verbunden werden, nähert sich die Darstellung einer wohlgeformten
Narration.“ (S. 8) Diese gilt auch beim Erzählen von Lebensgeschichte
als die Idealform. Kontingenz muss erklärt (oder verschwiegen) werden
genauso wie die Entscheidung für eine Wahlmöglichkeit (etwa für einen
bestimmten Beruf). - Grenzzeichen: Sie markieren den Eintritt in die und
den Austritt aus der Erzählung und rufen beim Kommunikationspartner
Erwartungshaltungen und Muster wach.
Im Folgenden erläutert Kraus die „Gestaltungsdimensionen von
Selbsterzählungen“, die sich allesamt aus der Narratologie herleiten
oder auf sie übertragen lassen: Inhalt, Erzählposition, Spannungsbogen,
Genrewahl, Zeitperspektive, Kohäsionsmittel. Nach einer Fallgeschichte,
an der er seine Ausführungen exemplifiziert,
geht Kraus im letzten Kapitel dazu über, die Identitätsnarration als
ein Symptom gesellschaftlicher Verönderung in der Postmoderne zu lesen.
Es ist natürlich keine große Leistung, dieses Konzpet nun auf den Film
(bzw. vom Film auf’s Leben) zu übertragen und die Frage zu stellen:
Inwiefern ähneln die Strukturen
filmischer und identitätsstiftender Narration einander. Interessant
wird
es hier, wenn man die Übelegungen umkehrt und versucht, eine
Film-Ästhetik/Narratologie aus den Prinzipien der Identitätsbildung
abzuleiten. Die
Frage, die damit aufgeworfen würde, wäre: Wirken Figuren in einem Film
deshalb so authentisch, weil die Ästhetik den Maßgaben narrativer
Identitätsbildung folgt? Das werde ich anhand von „Ensayo de un Crimen“
in meiner Dissertation untersuchen.