Frauke Gewecke: Wie die neue Welt in die alte kam

Frauke Gewecke: Exkurs – Begegnung mit dem Fremden. Zur
Sozialpsychologischen Grundlegung ethnischer Stereotype. In: Dies: Wie
die neue Welt in die alte kam. Stuttgart: Klett-Cotta 1986, S. 273-296.

Nach der gestrigen Pressevorführung von Andersons „Alien vs. Predator“
und den darin recht offensichtlich verwandten Alteritäts- und
Kolonialismusmotiven habe ich mir noch einmal Frauke Geweckes Postkolonialismus-Klassiker zur Brust genommen. Hier ein Lesexzerpt mit zentralen Zitaten.

In dem „Exkurs“ unternimmt Gewecke eine sozialpsychologische und
gruppensolziologische Untersuchung über das Entstehen von
ethnozentristischen Vorurteilen. Für mich interessant ist vor allem der
situationale Aspekt, nachdem ein Vorurteil besonders dann Attraktiv
ist, wenn es dazu dienen kann, das eigene Verhalten gegenüber
der fremden Ethnie zu rechtfertigen: „in ihrer Selbstbehauptungs-,
Abwehr- und Entlastungsfunktion [… kann] der Konquistador oder
Kolonist durch die Beschwörung einer bei den Menschen tatsächlich oder
nur vorgeblich angetroffenen ‚Bestialität‘ sein Tun angesichts
möglicherweise laut werdender Kritik vor der Öffentlichkeit zu
rechtfertigen suchen.“
(277f.)

Diesen Typus untersucht Gewecke im Folgenden eingehender, um
herauszufinden, wo genau die Motivation solchen Handelns liegt. Dabei
kommen sozio-kulturelle Aspekte zum Tragen (das Vorurteil als Generator
von Gruppenzugehörigkeit und Adaption von Normen einer Gruppe), die
nicht allein aus eigenen negativen Stereotypen bestehen, sondern auch
durch Dritte verstärkt werden: „In diesem Fall wird etwa das
negative Bild dieser letztgenannten, gegnerischen Gruppe dadurch
verstärkt, daß eine von dieser unterdrückte dritte Gruppe besonders
positiv bewertet wird.“
(280) … Das wird als der Kern des in der
Kolonialismusliteratur oft herbeizitierten „guten Wilden“
herausgestellt (zu finden etwa bei Kolumbus, der ständig zwischen den
Streitigkeiten verschiedener Stämme hin und her gerissen wurde und den
jeweiligen Gerüchten des einen Stammes über den anderen aufgesessen
ist).

Auf der individualpsychologischen Seite macht Gewecke die „offene“ und
„geschlossene“ Bewusstseinsstruktur des Vorverurteilenden als Grund
aus: „inwieweit die Verarbeitung von Information auf den Ebenen von
Erkenntnis, Einstellung und Verhalten durch irrelevante Faktoren
beeinflußt wird.“ (281) Je geschlossener ein Orientierungssystem ist,
desto mehr findet eine negative Beeinflussung des Urteils durch
irrationale Faktoren statt. Dennoch lassen sich Gewecke zufolge auch
solche Aussagen „neutralisieren“, weil „mit der Aussage über einen
Gegenstand oder Sachverhalt gleichzeitig auch eine Aussage über die
Quelle, den Urheber dieser Information“
(282) transportiert wird. Dies liegt im „fundamental dualistischen Charakter der menschlichen Kommunikation begründet.“ (282)

Gewecke definiert Ethnien als „Gruppen, die sich nicht primär
aufgrund physischer, sondern aufgrund kultureller Merkmale voneinander
unterscheiden, wobei Kultur begriffen wird als ‚jenes komplexe Ganze,
das Kenntnisse, Glauben, Kunst, Moral, Gesetz, Sitte und die anderen
Fähigkeiten und Gewohnheiten mit einschließt, die vom Menschen als
Mitglied der Gesellschaft erworben werden‘ (E. B. Taylor)“
(285) Unsere kulturelle Präformiertheit (auf die Aspekte unserer eingenen Kultur) begründet sich darin, dass wir „häufig
nur das [sehen], was wir zu sehen gewohnt sind oder zu sehen erwarten;
verstehen nur das, was in unserem Begriffsvermögen eine Entsprechung
findet; und bewerten als gut oder schlecht, was wir in unserer eigenen
Kultur als gut oder schlecht zu bewerten gelernt haben. So enthält
schließlich eine Aussage über die andere Kultur stets eine Aussage über
die eigene Kultur, gibt die – negative oder positive – Bewertung einer
Fremdkultur auch stets Auskunft über den Standpunkt des urteilenden
Subjekts und seine – bejahende oder ablehnende – Haltung gegenüber den
Normen und Werten der Eigenkultur.“
(285f.)

Das verdeutlicht, dass sämtliche ethnozentristischen Einstellungen
nicht nur im Kontrast zur Eigenkultur entstehen, sondern diese
Eigenkultur auch erst Ethnozentrismus und Perspektiven auf das Andere
(und ob wir es überhaupt als Anderes wahrnehmen können) ermöglicht.
Dieser Ethnozentrismus der Eigenkultur ist daher in der Anerkennung der
„edlen Wilden“ nicht etwa überwunden, sondern diese Perspektive ist
Gewecke zufolge nur einer seiner Aspekte, der sich aus den Konzepten
von „Eigengruppe“, „Bezugsgruppe“ und „Vergleichsgruppe“ ergibt: „Bei
gruppenkonformer Einstellung in allen Bereichen sind Bezugsgruppe und
Mitgliedsgruppe (=Eigengruppe) identisch, bei gruppenabweichender
Einstellung hingegen nicht. Im letzeren Fall wird einer Fremdgruppe die
Rolle der Bezugsgruppe zugeteilt.“
(288)

„Das Fremde ist zunächst das, was dem Eigenen entgegensteht; […]
Fremde [kennzeichnet] auch ein subjektives, bewußtseinsspezifisches
Phänomen: Im gegensatz zum Eigenen, das uns bekannt und vertraut ist,
bedeutet das Fremde das uns Unbekannte, Ungewohnte, Unvertraute. Das
Fremde kann aber auch das Andersartige beinhalten: das, was in der
interkulturellen Begegnung die andere Kultur von der eigenen
unterscheidet, von ihr abweicht.“
(291) Dieses Fremde wird oft als
Bedrohung oder Gefahr für das Selbstverständnis empfunden, erweckt
Angst und Mißtrauen durch seine Andersartigkeit. „Die Abwehrhaltung
gegenüber dem Fremden und Faszination durch das Fremde treten aber nur
dann auf, wen die andere Kultur nicht als absolut fremd erfahren wird;
wenn zu dieser Fremdkultur ein Minimum an Beziehung geknüpft werden
kann, wenn schließlich die distanz nicht als unüberwindbar erscheint.“
(292)

Über Stefan Höltgen

siehe: http://about.me/hoeltgen
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