Die anale Phase in Cronenbergs „Shivers“

Gestern lief in unserer David-Cronenberg-Reihe „Shivers“ mit einer sehr instruktiven Einführung von Brigitte Weingart über Kristevas Theorie des Abjekten. Dazu ist mir im Verlauf des Films folgende Frage gekommen: Was genau ist eigentlich der Parasit in dem Film?

Angeschlossen an den psychoanalytischen Diskurs von Weingart und meiner Überlegung zu „The Brood“, dass Cronenberg in seinen Filmen psychoanalytische Theorie inszeniert, habe ich mir folgendes überlegt:

Freud beschreibt die (sexuelle) Entwicklung des Kindes in drei Phasen:

  1. die orale Phase: Die sexuelle Lust entsteht über die Reizung der Mundschleimhäute und Lippen und ist eng an die Nahrungsaufnahme gekoppelt. Es ist die früheste Stufe, die die Bindung zur (ernährenden) Mutter als erste Objektbeziehung etabliert.
  2. die anale Phase (auch: analsadistische Stufe): zwischen dem 2. und 4. Lebensjahr. Hier wird die Libido unter dem Primat der analen erogenen Zonen organisiert. „Die Objektbeziehung hat Bedeutungen, die an die Defäkationsfunktion (Ausstoßen-Zurückhalten) und an den symbolsichen Wert des Fäces gebunden sind. Man sieht hierin eine Äußerungsfunktion des Sadomasochismus in der Beziehung zur Entwicklung der Muskelbildung.“ (Lapanche/Pontalis, 62f.)
  3. die genitale Stufe: hier werden die Partialtriebe unter dem Primat der Genitalzonen gekennzeichnet. Sie wird unterschieden in einen ersten, phallischen Abschnitt (infantile Genitalorganisation) und einen zweiten, die eigentlche Genitalorganisation, die in der Pubertät erreicht wird.

Soweit zu den Vorbedingungen. Mich interessiert nun – ins Besondere wegen des AUSSEHENS des Parasiten (ihr wisst schon: kackepieksen.gif) und wegen des VERHALTENS der Infizierten nur die ZWEITE, die ANALE Phase.

Bei Freud wird die anal-erotische Phase des Öfteren mit Charaktereigenschaften wie Geiz oder Ordentlichkeit – in pathologischer Ausformung auch der Ausbildung von Zwangsneurosen – in Verbindung gebracht. Außerdem ist der Analerotiker jemand, der sich mit sich selbst (bzw. mit seiner analen Lusterzeugung) beschäftigt und kein „Gegenüber“ zur sexuellen Stimulation benötigt (die anale Phase kommt ja noch vor der genitalen).

In Shivers gibt es nun etliche Szenen, in denen man Tudor auf dem Bett liegen und mit seinem Bauch (dort wo sich der Verdauungsapparat befindet) spielen sieht. Die Parasiten unter seiner Bauchdecke bewegen sich und ihr Betasten und ihre Bewegungen erzeugen in ihm starke Lustgefühle. Als er einmal besonders laut stöhnt, kommt seine Frau ins Schlafzimmer und fragt ihn, ob er Schmerzen habe oder ob sie ihm helfen könne. Er sagt erst gar nichts und brüllt sie dann an, sie solle ihn allein lassen. Kaum ist sie – weinend – aus dem Zimmer gegangen, beginnt er wieder mit seinem „Kot“ zu spielen.

Hier schiebe ich jetzt mal einen kleinen Exkurs aus der Medizin ein: Bei akutem Darmverschluss kommt es – wenn dieser Verschluss nicht behandelt wird – an einem bestimmten Zeitpunkt der Krankheit zu Koterbrechen (Misere). Auch im Film brechen die Parasiten aus dem Inneren, dem Bauch und dem Mund Tudors hervor – und zwar genau in dem Moment, als seine Frau ihm den Sex verweigert, den er sich sogar mit Gewalt erzwingen will. In meine Vermutung übertragen, dass Tudor in seiner anal-sadistischen Phase
steckt und an die medizinische Beschreibung des Koterbrechens gekoppelt, könnte man behaupten, dass Tudor so lange zurückgehalten hat, bis sich sein Kot eben einen anderen Weg gesucht hat.*

Überall im Gebäude kommt es zu Szenen, in denen Nichtinfizierte zu erst gewalttätig überfallen und überrumpelt werden, nur um dann – nach dem der Parasit über den Mund des Infizierten in den Mund des zu Infizierenden gelangt ist, in genital-erotische Orgien zu münden.

Zweiter medizinischer Exkurs: Bei besonders schweren Formen von Schizophrenie tritt eine Form der Perversion auf, die sich „Koprophagie“ nennt und meint, dass sexuelle Stimulanz über das Essen des eigenen oder fremden Kots erreicht wird. (Mittlerweile ist Koprophagie aber auch eine „nicht-pathologische“ sexuelle „Spielart“ -> Scat-Games). Auch hier spielen natürlich anal-erotische (und selbstverständlich oral-erotische) Komponenten eine Rolle.

Sobald der Parasit den Körper des Einen verlassen und den des Anderen betreten hat, ist der Akt beendet (Cronenberg zeigt jedenfalls nichts weiter folgendes). Die Infektionskette wird nun vom Neuinfizierten fortgeführt.

In einer möglichen psychoanalytischen Deutung im Zusammenhang mit der Anal-Erotik haben sich mir da folgende Überlegungen aufgedrängt:

  1. Der Parasit sieht nicht nur aus wie Kot, sondern könnte auch dessen symbolische Funktion einnehmen.
  2. Die symbolischen Funktion des Parasiten wäre dann die des extrem zurückgehaltenen Kots, der sich schließlich seinen Ausweg auf anderem Wege sucht: Durch Kot-Erbrechen (oder bei Tudor auch durch die
    Bauchdecke, weswegen seine Zwischenmenschlichen Kontakte auch nie erotischer, sondern immer gewalttätiger Natur sind).
  3. Nachdem der Kot den Körper verlassen hat wird die sadistische Agression (anal-sadistische Phase) in Erotik (genitale Phase) gewandelt.

Interessant scheint mir hier, dass Shivers auf den ersten Blick äußerst sexual-antiaufklärerisch wirkt: Der Parasit, der ja – zumindest bei oberflächlicher Betrachtung – „für Sex steht“, wird von den nicht infizierten Hausbewohnen extrem gefürchtet. Dabei kommt doch aber niemand ums Leben, der infiziert ist – einzig seine Triebe werden durch die Infektion völlig enthemmt. Cronenberg zufolge kulminiert der Film ja in einem „Happy End“, als schließlich alle infiziert sind und aus dem Hochhaus in die Welt hinaus fahren (Radiodurchsagen warnen vor einer Sex-Epidemie, die in der Stadt grassiert). Aber wie sehen denn die Leute aus, die aus der Garage herausfahren? Richtig: Wie ruhige, befriedigte Menschen, die keine Probleme (mehr) haben.

* Das würde auch ziemlich gut zur häufig bei Cronenberg vorkommenden Kopplung von psychischen mit physischen Phänomenen. In der Literatur wird das oft auf das Phänomen des „Leib-Seele-Problems“ und bei Riepe auch als „wörtlich genommene Metapher“ gedeutet.

Über Stefan Höltgen

siehe: http://about.me/hoeltgen
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