Spider

15.06.04: Spider (Aus der Erinnerung)

Familienromane

Wenn
es bei David Cronenberg um das Thema „Familie“ geht, darf man als
Zuschauer auf die tiefsten emotionalen Abgründe hoffen. Familie, dass
ist in Cronenbergs Universum immer gleichbedeutend mit gewalttätigen
Strukturen, Missbrauch, Angst und psychischer Instabilität – also genau
das Gegenteil der Familien, die Hollywoods Filmmelodram sonst
präsentieren. Cronenbergs Familienfilme sind, trotzdem sie als
„Fallgeschichten“ daherkommen, immer „phylogenetisch“ motiviert: Er
bebildert in seinen Familienfilmen die im sozialen Konstrukt “Familie“
von je her bestehenden Probleme und Untiefen, verschiebt sie auf die
Ebene des Horror, verdichtet sie zu Einzelschicksalen und bringt dies
filmisch zur Darstellung.

In „The Brood“ beschreibt Cronenberg
eine Mutter, die sui generis Kinder gebiert, die nur für kurze Zeit
leben und jeden töten, auf den sich die emotionale Aggression der
Mutter richtet. „Scanners“ erzählt die Geschichte zweier ungleicher
Brüder, die mit telekinetischen Fähigkeiten ausgestattet sind und als
erbitterte Feinde gegeneinander die Selbstvernichtung antreten. Analog
handelt „Dead Ringers“ von Gynäkologen-Zwillingsbrüdern, die sich beide
in dieselbe Patientin verlieben und sich ihr gegenüber als einer
darstellen – was schließlich aller drei Leben zerstört. Mit seinem
neuen Film „Spider“ widmet sich Cronenberg nun einem Freud’schen
Familienroman reinster Ausprägung: Ein Junge erzählt sich selbst die
Geschichte seiner eigenen Herkunft und versucht das Netz aus
biografisches Halbwahrheiten aufrecht zu halten um sich dadurch sein
eigenes Leid verstehbar zu machen.

Dennis Clegg (von seiner
Mutter mit dem Kosenamen „Spider“ belegt) kehrt nach Jahrzehnten in
seinen Heimatort zurück. Dort wird er in einem Übergangsheim für
ehemalige Insassen einer Psychiatrie untergebracht. Denn Spider leidet
unter Schizophrenie. Er eilt ruhelos und sich ständig nach Verfolgern
umschauend durch die Straßen, führt Selbstgespräche und ist unfähig
Beziehungen zu anderen Menschen aufzubauen. Er trägt unter seinem
Mantel stets vier Oberhemden und als er vermutet, der Gasofen seines
Zimmers würde die Luft vergiften, wickelt er sich zusätzlich noch mit
Zeitungspapier ein. Wie seinen Augapfel behütet er ein kleines
Notizheftchen, in dem er Erinnerungsaufzeichnungen über seine
Vergangenheit sammelt. Und um die fehlenden Erinnerungen aufzufrischen
und das Notizbuch zu ergänzen – den Familienroman endlich zu einem
kohärenten Ende zu bringen – sucht er nun die Stätten seiner Kindheit
auf.

Für David Cronenberg ist Film ein Experimentierfeld. Nicht
nur bebildert er immer wieder eigene wissenschaftliche und
quasi-wissenschaftliche Hypothesen (zum Beispiel hat David Cronenberg
mit „Rabid“ 1974, lange bevor der Begriff „Stammzellentherapie“ geprägt
war, einen Film über das Verfahren gedreht); Cronenberg setzt die
audiovisuellen Möglichkeiten des Films auch selbst experimentell ein.
In dieser Hinsicht interessant sind seine Versuche über den Filmraum,
zu denen auch Spider gezählt werden kann. Cronenbergs Filme handeln
auch immer davon, wie Räume überbrückt werden können: entweder durch
die Technik („Videodrome“, „eXistenZ“, „The Fly“) oder durch
parapsychologische Fähigkeiten („Dead Zone“, „Scanners“). Das
Wesentliche dabei ist, dass Cronenberg disparate Räume einander
durchdringen lässt, indem er die Membran dazwischen (oft eine mediale
Oberfläche) durchstößt und den Protagonisten selbst zum Medium macht.

In
dieser Hinsicht ist auch „Spider“ ein Film über die Überwindung von
Raum- und nun auch Zeitgrenzen: Dennis Clegg erinnert sich nicht
einfach daran, was er als Junge erlebt hat; nein, er nimmt noch einmal
daran Teil, wenn sein Vater seine Mutter betrügt, diese schließlich im
Suff erschlägt und mit einer Hure als „Ersatzfrau“ weiterlebt. Dennis
steht als Erwachsener Beobachter in den Szenen seiner Kindheit, sieht
sich selbst als Kind, spricht die Worte, die er damals gesprochen hat,
aus der Erinnerung, wie, um sich zu vergewissern, dass er sich korrekt
erinnert. Und dennoch werfen diese scheinbar untrüglichen Bilder Fragen
auf: Der erwachsene Spider ist selbst Zeuge solcher Szenen, denen er
als Kind gar nicht beigewohnt hat und genau diese Szenen schreibt er in
sein Notizheft.

Dass jeder Familienroman, wie die Psychoanalyse
ihn beschreibt, ein rein ideelles Konstrukt ist, ein Wunschtraum, der
die Kränkung des Ödipusdramas, dessen Zeuge wir zusammen mit Dennis
immer wieder werden, verdeutlich Cronenberg schonungslos. Das
Lügengebäude Dennis’ bricht mehr und mehr in sich zusammen. Die Szenen
seiner Vergangenheit ursupieren seine Gegenwart und der nächste
schizophrene Schub verursacht, dass die Menschen seiner Umgebung auf
einmal zu den Menschen seiner Vergangenheit werden. Schließlich muss
Dennis erkennen, was es mit dem Tod seiner Mutter auf sich hat. Sein
Versuch, die Fäden seiner Biografie zu einem perfekten und
undurchdringlichen Netz zu knüpfen, scheitert.

Cronenberg
erzählt und zeigt diese Geschichte mit unglaublichem
Einfühlungsvermögen und – wie man so sagt – psychologischer Tiefe.
Diese Tiefe ist jedoch auch einem Projekt filmischer Theoriebildung
geschuldet, deren Bestreben es ist, Film selbst als Diskursbeitrag zu
formulieren. Auf diese Weise verwebt er die Sujets seiner Filmografie
zu einem Projekt über den Menschen, der in der Überschreitung
räumlicher und zeitlicher Grenzen die Fragmentierung seiner selbst
erleben muss. Gesund und Krank unterscheidet Cronenberg dabei nicht;
das sind nur verschiedene Grade auf ein und derselben Skala.

Über Stefan Höltgen

siehe: http://about.me/hoeltgen
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