FFF 2007: Sechster Tag

Out of the Blue
Fissures
The Living and the Dead
Disturbia
Welcome to the Jungle

… zu letzterem auch der heutige Podcast:

Out of the Blue (Nz 2006, Robert Sarkies)

Am 13. November 1990 läuft in der neuseeländischen Kleinstadt Aramoana ein Mann Amok und erschießt 13 Menschen. Sarkies Film versucht die Katastrophe in Bilder zu fassen, ohne mit dem Anspruch einer Erklärung aufzutreten oder sie spakulativ auszuschlachten. Figuren werden nur rudimentär entwickelt – selbst der Amokläufer erhält nur eine kurze Vorgeschichte, aus der sich auf keinen Fall ein Motiv oder gar eine Psychologie ableiten lässt. Anstelle dessen hält der Film das Grauen fest, dass durch die Plötzlichkeit und Unerwartetheit des Überalls über die arglosen Männer, Frauen und Kinder hereingebrochen ist. Um seinem Film auch den letzten Anschein von „Action“ zu nehmen, unterbricht Sarkies die Darstellung des Amoklaufs immer wieder durch Sekunden lange Einstellungen mit Landschaftsaufnahmen. Der Kontrast zwischen dem Idyll und dem, was sich in diesem Idyll ereignet könnte größer kaum sein. „Out of the Blue“ wirkt wie eine sehr intime Annäherung an sein Sujet, wie allein für die Hinterblienen gemacht, damit sie sich die Geschehnisse dadurch, dass sie ein „Bild“ bekommen, auf Distanz bringen können. Als „unbeteiligter“ Zuschauer wird man vom Mitleid und von der Traurigkeit der Geschehnisse beinahe überwältigt. Selten ist es einem Film gelungen eine derartige Katastrophe so unprätenziös einzufangen.

Fissures (Écoute le Temps, Frankreich 2007, Alanté Kavaité)

Die Selbstreflexivität dieses stillen kleinen Kriminalfilms drängt sich dem Betrachter förmlich auf: Eine junge Frau reist an den Ort, an dem vor kurzem ihre Mutter ermordet wurde. In dem Raum des Hauses, wo dies passiert ist, macht die Ton-Ingineurin Aufnahmen und fängt unerwartet Stimmen „aus dem Jenseits“ ein – Tondokumente vergangener Zeiten, die sich in just dem Raum abgespielt haben. Die Frau entdeckt, dass in unterschiedlichen Zonen des Raums Szenen unterschiedlicher Zeiten und Inhalte stattgefunden haben und zieht so Verbindungslinien, die sie schließlich an jenem Punkt im Raum führen, der die Ermordung der Mutter dokumentiert. Während sie diese Entdeckung macht, ist auch die Polizei mit der Detektion des Falles beschäftigt und es scheint, als stünden auch noch zwei andere Verbrechen damit in Verbindung. Diese „Verbindungen“ entdeckt auch die Tochter der Ermordeten in ihren Tonaufnahmen und so, wie bei der Polizei die Ermittlungslinien zusammenlaufen, kreuzen sich auch ihre durch den Raum gespannten Stränge. Das Phänomen des „Erzählstrangs“ wird hier auf kongeniale Weise visualisiert und eröffnet dem Zuschauer, wie „Plots“ (Gewebe) konstruiert werden. Dass diese Plots schließlich über einer „Handlungslücke“ (unter dem Kreuzpunkt der Fäden befindet sich ein bodesloses Loch im Fußboden, in das schließlich das Haus hineinstürzt) zum Ergebnis führen, scheint diese Strukturanalogie zu unterstreichen. „Fissures“ ist damit gleichermaßen ein stiller, grandios konstruierter Kriminalfilm in der Tradition Claude Chabrols wie auch ein Lehrstück darüber, wie solche Kriminalfilme „gestrickt“ sind.

The Living and the Dead (GB 2006, Simon Rumley)

Rumleys Film erzählt von einer Kleinfamilie (ein Vater, seine schwer kranke Frau und der geistig behinderte Sohn), die allein in einem schon fast verfallenen Schloss leben. Als der Vater für zwei Tage verreisen muss und eine Krankenschwester zur Pflege seiner Frau bestellt, sperrt der Sohn die Helferin kurzerhand aus, weil er meint, die Mutter selbst versorgen zu können. Das kann er jedoch nicht, dosiert ihre Medikamente falsch, lässt die Frau beinahe in einer mit kaltem Wasser gefüllten Badewanne ertrinken und vergisst auch die eigenen Medikamente einzunehmen, was seinen Geisteszustand nur noch verschlimmert. Mit dieser Erzählung, die nicht die einzige des Films ist, bringt „The Living and the Dead“ seine Zuschauer schon an den Rand des Unerträglichen; was dann aber folgt, übersteigt dies bei weitem. Rumley findet zur Inszenierung dieses alltäglichen Grauens die perfekte Darstellung in Bild und Ton. Nutzt vor und Rückblenden um seine Erzählung mit einem Spannungsbogen zu durchziehen, setzt Zeitraffern, Überblendungen und Schwarzblenden zur Illustration des unerträglichen Zeitflusses ein und positioniert seine Kamera immer wieder hinter und in den Haushaltsgegenständen um eine möglichst neutrale Position für die Bebilderung des Unfassbaren einzunehmen. „The Living and the Dead“ ist in seiner erzählerischen wie ästhetischen Radikalität sowie dem großartigen Spiel seiner Darsteller ein kleines Meisterwerk.

Disturbia (USA 2007, D. J. Caruso)

„Rear Window Vista“ – Carusos Film ist zunächst nicht mehr und nicht weniger als eine technische Aktualisierung von Hitchcocks Hinterhofvoyeurs-Klassiker. Dann jedoch mischen sich Motive, wie sie etwa auch „The Burbs“ oder „Fright Night“ bekannt sind dazu, denn der Serienmörder, der hier von ans Haus gefesselten Jugendlichen entdeckt wird, weiß um seine Entdeckung und infiltriert nach und nach die Sphäre seines Beobachters. „Disturbia“ ist ein überaus gelungener, kurzweiliger Film mit sehr guten Einfällen, Zitaten und einer charmanten Entwicklungsgeschichte, die seine Hauptfigur durchmacht. Dem Film vorzuwerfen, dass er nur nachmacht, was andere besser vorgemacht haben, wäre verfehlt, denn originell kann und will „Disturbia“ nicht sein. Vielmehr ist er ein mitreißend inszenierter, spannender Suspense-Thriller, der sich wirklich einmal „vor seinen Vorgängern verbeugt“.

Welcome to the Jungle (Australien/USA 2007, Jonathan Hensleigh)

Kannibalenfilm aus Versatzstücken von Deodatos „Cannibal Holocaust“ und „Blair Witch Project“. Außer einer zeitgemäßeren Figuren-Auswahl hat der Film wenig zu Neues zu bieten, reicht intellektuell nicht an seine Vorbilder heran und lässt sogar das kannibalische Mahl aus, um jugendfrei zu bleiben.

Über Stefan Höltgen

siehe: http://about.me/hoeltgen
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