»Uns bleibt nur sein Werk.«

Sunand Tryambak Joshi: H. P. Lovecraft – Leben und Werk. 2 Bände. Übersetzt von Andreas Fliedner.

Schon 2018 hatte ich mir die deutsche Übersetzung von Joshis einschlägiger & zweibändiger Lovecraft-Biografie zur Rezension in Literaturkritik.de bestellt. Der erste Band kam auch postwendend, der zweite ließ allerdings auf sich warten. Und als ich die Lektüre von Band 1 abgeschlossen hatte und die Fortsetzung immer noch nicht auf Deutsch erschienen war, sagte ich die Rezension schließlich bedauernd ab, um nicht nur ein „halbes Buch“ vorzustellen. Drei Jahre danach entdeckte in bei einem Otherland-Besuch dann, dass der zweite Band inzwischen auch erschienen war und kaufte ihn mir. Heute habe ich die Lektüre abgeschlossen und denke – auch als Dank für das Rezensionsexemplar des ersten Bandes – hier ein paar Worte zu dem Werk verlieren zu dürfen.

Gerade bedingt durch mein vornehmlich literaturwissenschaftliches Studium bin nicht natürlich sowohl gut mit der Textsorte Biografie als auch den einschlägig(st)en deutschen Autorenbio- und -autobiografien vertraut. Deshalb glaube ich einigermaßen sicher zu sein, wenn ich schreibe, dass Joshis Darstellung sowohl in Gründlichkeit, Detailliertheit, Vielseitigkeit, Umfang und stilistischer Präsentation zu dem Besten gehört, das das ‚literarische Genre‘ der Biografie zu bieten hat. In der Tat kann ich mich jenseits von Darstellungenzu deutschen Klassikern kaum an Beiträge dieses Genres erinnern, die eine derartige Mühe und Detailgenauigkeit in der Darstellung von Zusammenhängen zwischen Leben und Werk eines Autors an den Tag legen.

Der erste Band widmet sich zentral der Familiengeschichte Lovecrafts, seiner Kindheit, Jugend und seinen Tätikeiten als Amateurjournalist, Wissenschaftsessayist (vor allem auf dem Gebiet der Astronomie) und „Klein-Verleger“. Hier ahnt man als Leser bereits, wie umfangreich das Material gewesen sein muss, das Joshi für seine Darstellung zusammengetragen hat. Man bekommt ein Bewusstsein dafür, in welcher geistigen und realen Welt Lovecraft zu denken und zu schreiben begonnen hat und nimmt an den ausufernden Diskursen teil, die er in die Welt des Amateurjournalismus unternommen hat. Auf welche Weise er sich selbst (dadurch, dass er krankheitsbedingt die Schule verlassen musste) mit einer alternativen Bildung versehen hat, macht die Hintergründe seines Schaffensprozesses ebenso verständlich wie den Fokus und die Inhalte seiner Bildung. Der erste Band bespricht zudem die frühen Erzählungen Lovecrafts und ihren Entstehungshintergrund. Hier zeigt sich bereits der zentrale „Sinn“ der Biografie, aus Werk und Leben des Autors eine untrennbare Einheit zu generieren, bei der deutlich wird, dass durchaus das eine aus dem andere erklärbar sein könnte (ohne freilich Psychologismus und Biografismus das Wort reden zu wollen).

Der zweite Band ist vor allem den großen Erzählungen Lovecrafts gewidmet – aber auch seinen vielen Reisen durch Teile der USA, verbunden mit Ortsbeschreibungen und Materialsammlungen für spätere Erzählungen und Essay. Zudem nimmt der immense Briefverkehr, den Lovecraft mit Lesern, Freunden und Autoren gepflegt hat, einen großen Raum in der Darstellung ein. Das weithin grassierende Vorurteil, Lovecraft sei Eremit oder gar Menschenfeind gewesen, der seine Provinzscholle nie verlassen habe, wird hier einmal mehr als unwahr entlarvt. Der Leser erfährt von Lovecrafts zu Lebzeiten nur in „exotischen“ Verlagen/Publikationen erschienenen Prosa- und Lyrik-Werk – seinem Entstehungsprozess, den unzähligen Kämpfen des Autors um Veröffentlichung (und Honorar), den Koautorschaften, Lektoratstätigkeiten und der wachsenden Schar an Epigonen, die ihm in Stil und Motiven nacheiferten.

Am beeindruckendsten ist allerdings das letzte Kapitel des zweiten Bandes, in dem Joshi die Rezeption und Wirkung von Lovecraft auf die Kultur und Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts beschreibt, seine Rolle im Pantheon der US-amerikanischen und Weltliteratur herausstellt (nicht ohne Seitenhiebe auf die zeitgenössische Horror-Massenliteratur) und in dem noch einmal resümmiert wird, was von Lovecraft als Person, Autor und Diskurs zu halten ist:

Joshi nimmt bereits zuvor an jeder Stelle, wo es notwendig erscheint, kritisch Stellung gegeüber Lovecrafts Kulturkonservatismus, Xenophobie und Rassismus. Er stellt aber auch heraus, dass dieser Aspekt das Ansehen des Werks und des Autors zu stark überschattet und Jahre, ja, sogar Jahrzehnte lang, eine sachliche Auseinandersetzung verunmöglicht hat. Ließen sich Stoffe wie „Shadow over Insmouth“ noch durch als xonophobisch motivierter Horror vor dem Anderen lesen, so gelingt dies bei späteren Werken wie „The Colour out of Space“, „At the Mountains of Madness“ oder „Shadows out of Time“ nur noch mit einer gehörigen Portion „Input-Hermeneutik“ (um diesen tollen Begriff Wolfgang Welschs hier noch einmal zu zitieren). Joshi stellt schon allein durch die immense Anzahl anderer Themen und Tätigkeiten Lovecrafts die eher randständige Bedeutung dieses Aspekts heraus – ohne jedoch die gerechtfertigte Kritik daran auszusparen; dies bekommt man vor allem in den Kapiteln zu den „New York“-Jahren Lovecrafts deutlich zu lesen. Auch Lovecrafts gekünstelt wirkender Stil, der oft als Poe-Kopie diffamiert wird, und die geringe „Plastizität“ seiner Protagonisten (zumindest der menschlichen) wird von Joshi verteidigt und in den Zusammenhang des vom Autor literarisch kodierten „Kosmizismus“ gerückt.

Schließlich geht Joshi noch hier auch noch auf die Rezeption des Lovecraft’schen Werkes durch alle Schichten der Literatur und in allen Medien ein. Da kommen weder die Splatterfilme Brian Yuznas noch die Lobpreisungen durch Stephen King zu kurz. Epigonen wie Darleth werden als Nachahmer zweifelhafter Qualität ausgewiesen und in ihrer toxischen Bedeutung für die lange aufgeschobene adäquate Rezeption Lovecrafts markiert. Die Situation um die Quellen – die Briefe, Notizbücher, hand- und maschinenschriftlichen Autographien der Erzählungen – aber auch um die Sekundärliteratur und Forschung zu Lovecraft wird im letzten Kapitel dargestellt. Beim Lesen dieses Kapitels habe ich meinen Literatur-Einkaufszettel um ein gutes Dutzend Titel ergänzen können.

Die Übersetzung durch Andreas Fliedner erscheint absolut tadellos (was ich mich zu schreiben traue, ohne das amerikanische Original zu kennen). Sie geht kontextsensitiv und behutsam mit den Quellen um: Gedichte werden im Original angegeben, um Lovecrafts Form- und Stilbewusstsein zu übermitteln und in Fußnoten auf Deutsch übersetzt. Zitate aus dem Werk Lovecrafts werden aus einschlägigen deutschen Übersetzungen übernommen. Sekundärliteratur ist am Ende jedes Kapitels lückenlos nachgewiesen. Es gibt eine Auswahlbibiografie und ein Namens- und Sachregister. Beide gebundene Bände sind solide hergestellt und mit jeweils zwei Lesebändern versehen, so dass ich beim Lesen immer schnell zu den Endnoten des gerade bearbeiteten Kapitels gelangen konnte.

Das zweibändige Werk aus dem Golkonda-Verlag (in dem auch einige Lovecraft-Übersetzungen erschienen sind), ist also unbedingt zu empfehlen – nicht nur für diejenigen, die sich für Lovecraft, die phantastisch-unheimliche und Pulp-Literatur interessieren, sondern auch für diejenigen, die ein Herz für sorgsam erarbeitete Biografien und für Schatzsuchen in den Archiven der Gegenwart haben! Bedingt durch die Lektüre steht bei mir deshalb nicht nur die ebenfalls bei Golkonda erschienene, auf deutsch übersetzte Joshi-Herausgabe von Lovecrafts Essays „Supernatural Horror in Literature“ (vergriffen aber grünstig antiquarisch erstanden!), sondern eine weitere, ebenso für ihre Akribie gelobte Autorenbiografie als nächsten auf dem Leseplan.

Über Stefan Höltgen

siehe: http://about.me/hoeltgen
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