Die unbenutzten Todesursachen

Ricky (F/I 2009, François Ozon) (Neue Kant Kinos)

Ein ganz kleiner Kinosaal mit etwa 20 Doppelsitzen die in 10 Reihen aufgeteilt und durch einen Gang in der Mitte getrennt sind. Zuerst waren Miriam und ich ganz allein, dann gesellte sich uns noch eine Mutter mit ihrer vielleicht 12-jährigen Tochter zu.*

Mein erster Film von Ozon und ich war regelrecht verzaubert von dieser ganz ungewohnten Art zu erzählen. Halb wie ein bedrückendes Sozialdrama, halb wie eine Groteske, wobei sich beide Hälften ständig befruchten, karikieren und relativieren. Bis klar wird, dass es sich wahrscheinlich um einen fantastischen Film handelt, baut „Ricky“ eine ganze Anzahl von bedrohlichen Szenerien auf, deutet an, dass die allein erziehende Mutter ihren Job verliert, deutet an, dass sie und ihre Tochter mit ihrem Motorroller einen Verkehrsunfall haben wird, deutet an, dass die Tochter wegen der neuen Liebesbeziehung der Mutter zu einem spanischen Liebhaber vernachlässigt wird, deutet an, dass dieser Liebhaber seinen neugeborenen Sohn misshandelt … und lässt diese Andeutungen doch jedes mal – wie das Handke-Gedicht von den „unbenutzten Todesursachen“ – links liegen, um doch eine ganz normale Geschichte zu erzählen.

Nun, so normal ist die Geschichte vom geflügelten Baby dann aber doch nicht. Und zuerst wundert man sich vielleicht über ein paar seltsame Jump-Cuts, die die Schwangerschaft überspringen und die die Zeit, in der die Flügel zu voller Größe heranwachsen links liegen lässt … und dann wird klar, warum das so erzählt ist. Weil der Film nämlich gar nicht vorhatte, (s)eine Lebensgeschichte zu erzählen, sondern weil das Baby Ricky wie eine Metapher, eine Kopfgeburt in diese zerrüttete und vom ständigen Untergang bedrohte Familie hineinschwebt. Es ist eine Beziehungsmetapher, ein „schwebender Sinn“. Das wird klar, als die Trennung kommt und sich das Umfeld gar nicht so verhält, wie man es erwartet, wenn ein Baby verloren geht. Ein der letzten Einstellungen, die diese Annahme in die Sichtbarkeit überführt, ist, als sich die Familie wieder zusammengefunden hat, sich alle drei umarmen und sich die Hände der Eltern hinter dem Rücken der Tochter verschränken, als wären sie ihre Flügel.

Selten habe ich einen Film gesehen, der seine Bildsprache so dicht um ein Motiv herum webt, und dies doch mit so großer Leichtigkeit zu verschweigen weiß!

* Der unverkrampfte Umgang mit Liebe und Sexualität, den das fanzösische Kino glücklicherweise pflegt, hat zu interessanten Bestürzungsseufzern der Mutter und interessiertem Nachfragen der Tochter geführt.

Über Stefan Höltgen

siehe: http://about.me/hoeltgen
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