Warum telefoniert Graham nicht gern?

Sex, Lügen und Video (Sex, Lies, and Videotape, USA 1989, Steven Soderbergh) (DVD)

Über Soderberghs Erstling habe ich wirklich schon einige Zeit gebrütet und mit jeder Sichtung tut sich mir ein neuer Bedeutungshorizont auf. In meiner Übung „Elektrische Medien im Film“ habe ich ihn in der Kategorie „Inszenierung von Video im Film“ verhandelt – in das „Telefon“-Modul hätte er aber ebenso gut gepasst.

Telefoniert wird viel in „Sex, Lies, and Videotape“, aber eines ist bei allen Telefonaten gleich: Beide Stimmen, sowohl die desjenigen Telefonierers, der im Bild ist, als auch die desjenigen, der „in der Leitung“ ist, sind klanglich gleich. Der Effekt der technischen Verzerrung der Telefonstimme (bei der vor allem die Höhen und Tiefen beschnitten und die Mitten stärker betont werden), welcher es dem Zuschauer erst möglich macht, akustisch zu unterscheiden, welcher Telefonierer welcher ist; dieser Effekt fehlt. Dadurch erhält die Stimme aus der Leitung nicht nur einen seltsamen acousmetrischen Effekt, sondern das Telefon wird zu einer medialen Metapher, die den Plot ergänzt: Geht es in „Sex, Lies, and Videotape“ um die Restrukturierung des Privaten durch die Medien (mit positiven wie negativen Konsequenzen), dann ist es das Telefon, das für den Eindringling den Zugang verschafft.

Das erste Telefonat findet zwischen John und Graham statt. Graham ist der Fremde, der in die Dreiecks-Beziehung von John, Ann und Cynthia eindringt, diese Beziehung aufbricht bzw. -klärt und neu strukturiert. Seine Herkunft ist ebenso ungewiss wie sein Ziel. Das einzige, was ihn auszeichnet, ist seine mediale „Fixiertheit“: Sein Sex-Leben findet nur mit Videokassettten statt, seine Mutter hat er „an das private Fernsehen verloren“ und Ann meint er ebenfalls „schon einmal im Fernsehen gesehen“ zu haben. Als Ann ihrer offenbar nymphomanischen Schwester Cynthia von Graham erzählt und was für ein besonderer Mensch er ist (er sondert ständig Sinnsprüche ab, die die frigide Ann an einen gefühlvollen Menschen glauben lassen), will sie seine Telefonnummer haben. Ann erwidert ihr daraufhin: „Er telefoniert nicht gern.“

Lässt man das Telefonat zwischen Graham und John zu Beginn außen vor, so stimmt dies: Er ist die einzige Figur des Films, die nicht (mehr) telefoniert. Warum? Hat es damit zu tun, dass er als Video-Enthusiast mit einem Echtzeitmedium wie dem Telefon nichts anfangen kann – oder damit, dass ihm hier nur imaginierte Bilder zur Verfügung stehen? Hat es damit zu tun, dass man am Telefon besser als vor der Kamera und viel besser als Vis a Vis lügen kann? Die Lüge ist ja nicht zufällig Bestandteil des Filmtitels und der einzige Ort, an dem nie gelogen wird, ist die Wohnung Grahams – dort, wo die Videokamera läuft.

Graham und seine Videokamera stehen damit gegen das Triplet Ann, Cynthia, John und ihre Telefon(at)e. Graham bekommt die Funktion eines Katalysators (katálysis – Auflösung), seine Wohnung fungiert gleichermaßen als Beichtstuhl wie als Reaktionstigel (und übrigens auch Psychotherapie-Praxis, schaut man sich einmal die Konstallation der Möbel und ihre Funktionalisierung im Miteinander der Figuren an). Das Medium Video erhält im Verlauf des Films den Nimbus eines „Mediums der Wahrheit“, obwohl doch gerade dieses Medium (zumal die analogen Video-8-Bänder Grahams) wie kaum ein anderes damaliges von Möglichkeiten der Manipulation bedroht ist.

Beim letzten, entscheidenden Videoscreening verwendet Soderbergh dann einen Trick, um sich diesen Nimbus für seinen Film zu „borgen“: Er zeigt John, der auf den Videomonitor schaut, dann den Videomonitor mit all seinen medialen Eigenschaften (Interlinear-Streifen, Störungen, Lautsprecherton), um dann dasselbe zu machen, das er von Beginn an mit dem Telefon angestellt hat: Das Videobild wird zum Filmbild, die typischen medialen Eigenschaften des ersten werden durch die des zweiten getauscht. Der Blick ist jetzt (scheinbar) nicht mehr medial getrübt, er ist dabei, mit im Raum. Es wird sogar die Videokamera, die das Bild ja eigentlich produziert, in diesem Bild gezeigt. Die Räume sind miteinander verschmolzen, die Immersion ist perfekt: John dreht durch, als er vor dem Monitor sitzend von den Geständnissen seiner Frau auf/über Video erfährt. Die Beziehungsstrukturen lösen sich nun vollends auf. Der Film „Sex, Lies, and Videotape“ hat sein Ziel/Ende erreicht und kann nur noch in einem Schluss „auslaufen“, der der Meisterschaft Antonionis in nichts nachsteht:

Ann: Ich glaube, es wird regnen.
Graham: Es regnet ja schon.

Über Stefan Höltgen

siehe: http://about.me/hoeltgen
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