Kriminolinguistik

Im Zuge meiner Recherchen zu "The Silence of the Lambs" habe ich mich gefragt, welche nicht-fiktionalen Elemente (vor allem Personen) wohl in die Erzählung (von Buch und/oder Film) eingeflossen sein mögen. Einen sehr interessanten Beitrag dazu habe ich in der Crime-Library gefunden. Dort untersucht Autor Anthony Bruno, welche realen Serienmörder hinter der Hannibal-Lecter-Figur zu suchen sind. Er geht dabei zunächst von den stark diskursivierten Fällen der Kriminalgeschichte aus, die teilweise Ähnlichkeiten zur Lecter-Figur aufweisen, um dann aber einen sehr originellen, ganz anderen Weg zu gehen:

Perhaps to get to the root of Dr. Lecter’s origins, it would be helpful to profile him as the FBI’s Investigative Support Unit would. […] To profile Hannibal Lecter, we must ignore the vivid character Thomas Harris has depicted in his books as well as Anthony Hopkins’s chilling portrayal of Lecter in the films The Silence of the Lambs and Hannibal.  Instead we must treat Lecter as what the Bureau refers to as an UNSUB, an unknown subject.

Angesichts der Tatsache, dass Thomas Harris selbst eingeräumt hat, sich durch Studien von FBI-Akten für seine Romane inspiriert zu haben und sogar (im Artikel erwähnte) Täter aus der Kriminalgeschichte zur Grundlage seiner Figurenzeichnung genommen hat, sich ansonsten aber beharrlich über Details ausschweigt, scheint mir eine solche Vorgehensweise angebracht. Immerhin ist der Beitrag kein genuin literaturwissenschaftlicher, sondern ein kriminalistischer – die "Verwechslung" von Facts und Fiction ist ein Gedankenspiel, das die Authentizität einer literarischen Fiktion testet. 

Meine eigenen Überlegungen entfernen sich (natürlich) etwas von einer solchen Vorgehensweise. Die Figuren in "The Silence of the Lambs" erscheinen mir auffällig in Typen sortiert zu sein – das gilt nicht nur für die Killer, sondern auch für die Jäger. 

[mehr: Crime Library)

Über Stefan Höltgen

siehe: http://about.me/hoeltgen
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6 Antworten zu Kriminolinguistik

  1. texturmutant sagt:

    Mir scheint sich hier auch eine interessante Einsicht über die Art und Weise von Literatur/Film-Produktion zu ergeben. Das Aufgreifen einer zunächst fachfremden Methode macht sehr schön das künstlerische Spiel mit dem Material deutlich…dies nur im Anschluß an die Konstruktivismus-Debatte einige Threads weiter unten;)

  2. Linder sagt:

    den Konstruktivismus-Thread, den texmutant zitiert, habe ich irgendwie nicht mitbekommen. Kann mir jemand auf die Sprünge helfen? (Kann man die Suche nach den ‚realen Vorbildern‘ im SK-Diskurs als contradictio in adjecto bezeichnen? Müßte man nicht sogar?)

  3. Stefan sagt:

    Einen Konstruktivismus-Thread in dem Sinne gab es gar nicht – es war mehr eine Kommentar-Diskussion zu einem Filmtagebucheintrag (bei der ich allerdings der Meinung bin, dass die Kritik, die an meinem Beitrag geübt wurde, nicht sachgerecht war):

    http://www.dissimulation.de/weblog/pivot/entry.php?id=1080

    Ich glaube auch nicht, dass ein „Anfang“ im Realen heute noch definitiv bestimmbar ist, wenn es um die Frage nach dem gegenseitige Einfluss von Realität und Fiktion geht. Das liegt aber vielleicht weniger an den kriminalhistorischen Ereignissen als an der Art und Weise, wie wir bei einem kulturellen Phänomen wie dem realen oder fiktionalen Serienmord sofort Assoziationen anstellen. Nur so kommen ja beispielsweise solche Holprigkeiten wie bei dem Theweleit-Text (ein bisschen weiter unten im Blog) zustande. Ich denke daher, dass ein konstruktivistisches Modell noch am besten geeignet wäre, die „Präzession“ zu beschreiben.

  4. Linder sagt:

    schönen Dank für den Hinweis. Was die SK-Einschätzung angeht, sind wir uns vermutlich eh einig. Theweleit: da hatte ich immer die Vermutung, dass die Fehlleistung aus einer Kontamination von Erinnerungsfetzen entstanden ist, in der das (unselige) Lang-Interview mit M und Kürten die Verknüpfung herstellt. Die Aufsätze zu Lüdke und Siodmak kennen sie wahrscheinlich. Aber sie sitzen eh an der Quelle und können nachvollziehen, daß man Fiktionalisierung (im ganz banalen Sinne) in den Akten nachverfolgen kann. Die Basisfiktion liegt in der Unterscheidung zwischen ‚authentisch‘ und ‚fiktional‘. Schöne Grüße!

  5. Stefan sagt:

    Die Diskurse um Serienmörder und -Filme sind ja Thema meiner Dissertation. Insofern finde ich gerade diese Kontaminationen spannend – sie scheinen mir Hinweise auf genau ihren letzten Punkt, der Unterscheidungszwang von Fiktion und Realität zu sein. Deshalb meine ich auch in der konstruktivistischen Medientheorie eine angemessene Methode für eine derartige Untersuchung gefunden zu haben. Sehr spannend, wie sich da die Diskurse im historischen Fortgang immer weiter ausfransen, je mehr mediale Beiträge zu ihnen eingestreut werden.

  6. Linder sagt:

    da wird halt mit Spannung gewartet. Entscheidend aus meiner Sicht: was ist Medium, was ist Diskurs (ich neige, bisschen fahrlässig, dazu, vom SK-Diskurs zu sprechen, der sich medial gleichsam ausdifferenziert).

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