»Aufschlitzer Jack«

Heute war ich in der Bonner Zweigbibliothek des medizinhistorischen Institutes. Ausleihen wollte ich mir dort das Buch von Thomas
Huonker: Diagnose ‚moralisch defekt‘. Kastration, Sterilisation und
Rassenhygiene im Dienst der Schweizer Sozialpolitik 1890-1970, Zürich
2003
(noch einmal zur Nachrecherche des „psychologischen Beraters“ von „Es geschah am hellichten Tag“). Nachdem
der mit blockwartartiger „Freundlichkeit“ ausgestattete Bibliothekar
mich darauf hingewiesen hat, dass auch Universitätesangehörige keine
Bücher aus der Präsenzbibliothek ausleihen dürfen, hat er sich auf die
Suche nach dem Buch gemacht und kam nach kurzer Zeit mit leeren Händen
wieder: „Hat sich ein Mitarbeiter ausgeliehen …“

Die Wartezeit habe ich genutzt und mir ein bisschen das historische
Forensik-Regal angeschaut. Dabei habe ich ein paar interessante Bücher
zu „meinem Thema“ gefunden. Unter anderem Dr. Erich Wulffen: Der
Sexualverbrecher. Ein Handbuch für Juristen, Verwaltungsbeamte und
Ärzte. Berlin: Verlag Dr. P. Langescheidt 1922. Darin habe ich im
Kapitel über „Lustmörder“ ein paar interessante Sätze zu Jack the Ripper entdeckt:

„Bei der dritten Gruppe [der Lustmörder] endlich kommt es
an Stelle des Koitus oder einer unzüchtigen Handlung zur
Tötungshandlung. Die Tötung absorbiert die ganze Wollust; für Beischlaf
und Unzucht bleibt keine Lustbetonung, häufig auch keine Kraft mehr
übrig. Hierher kann man den in den Jahren 1887 bis 1889 [sic!] in
London gefürchteten Aufschlitzer Jack rechnen, der in den genannten zwei [sic!] Jahren elf [sic!]
Frauen zuerst den Hals abschnitt, danach die Bauchhöhle öffnete, in den
Eingeweiden wühlte, sich mehrfach die äußeren Genitalien herausschnitt,
sie mitnahm oder an Ort und Stelle zerfetzte, aber die Frauen nie
gebrauchte. Er ist  nicht ermittelt worden. ‚Vermutlich waren ihm
Morden und Verstümmeln Äquivalente für den sexuellen Akt‘, sagt Ilbert
sehr richtig. Zur Vollziehung des normalen Aktes ist ein solches
Individuum meist gar nicht fähig.“ (S. 460f.)

Hoch interessant ist neben der – trotz der (relativen) historischen
Nähe zum Fall – falschen Faktenlage die Rhetorik des Textes! Der Affekt
über den skrupellosen Prostituiertenmörder katapultiert den Autoren
geradewegs in Unsachlichkeit und verleitet ihn sogar zu spekulativen
Aussagen über die Sexualität des Mörders, könnte man meinen. Wenn ich
irgendwann einmal Zeit habe, werde ich einen Artikel über die
zeitgenössische „Rezeption“ des Falles recherchieren und schauen,
welche sprachlichen Effekte „Jack the Ripper“ noch so nach sich gezogen
hat.

Über Stefan Höltgen

siehe: http://about.me/hoeltgen
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