Kino der Lüge – Einleitung

Jochen Mecke: Kleine Apologie des Kinos der Lüge. In: K.
Kratochwill / A. Steinlein (Hrsgg.): Kino der Lüge. Bielefeld:
transcript 2004, S. 9-27.

Eine interessante Frage, der das Buch nachgeht: Lügt Kino? Kann Kino lügen?

Zweierlei Form der Lüge machen die Autoren aus: Kino, das von Lüge
erzählt und Kino, das selbst lügt. So trivial das erste Beispiel ist
(und so viele Beispiele sich dafür finden lassen), so wichtig ist die
zweite Frage.

Es hat ja in der Vergangenheit einige „lügende Film“ gegeben. Man
erinnere sich nur an Hitchcocks „Stage Fright“, wo er glatt eine
falsche Rückblende eingefügt hat, die sich später als unwahr
herausstellt. Der Autor sieht in solch einem Verfahren einen Tabubruch,
weil die Konvention, dass Film zumindest jenseits seiner Narration
„wahr“ zu sein habe, zu den (ich nenne es mal so)
„Kommunikationsparadigmen“ zählt. Wenn ich mich nicht darauf verlassen
kann, dass das „wie“ der Erzählung nicht wahr ist, dann brauche ich
mich gar nicht erst auf alle anderen Fragen mit dem Film
zusammenhängend einlassen. Dennoch steht aber nirgends geschrieben,
dass dieses „wie“ immer wahr sein sollte.

Das führt der Autor mit einem zweiten Beispiel aus: Auf der Metaebene
muss die Frage nach „Wahrheit und Lüge“ nämlich erneut und unter neuen
Voraussetzungen aufgeworfen werden. Film steht schon allein deshalb
außerhalb der Kategorien „wahr/falsch“, weil er von seinem technischen
und ikonografischen Bedingungen her gar nicht lügen kann:

„Wahrhaftigkeit scheint dem Kino näher zu liege als Lüge, weil
Filmbilder nach wie vor mit dem Nimbus des Realen »wahr«-genommen
werden. Daran haben weder die Filmtheorie noch die manipulative Praxis
von Prpagandafilmen etwas geändert.“ (12)

Das führt natürlich dazu, dass der Zuschauer nicht die prinzipielle
Ununterscheidbarkeit von Wahrheit und Lüge voraussetzt, sondern immer
zunächst die Wahrheit. Mit diesem „Vorurteil“ hat Hitchscok gespielt –
aber nicht konsequent. Konsequent wäre meiner Meinung nach eine
Betonung der Ununterscheidbarkeit.

„Das Kino der Lüge meint eine Lüge zweiten grades.“ (13) – erst recht,
wenn es vorgibt die Wahrheit zu sagen. Doch in einer Welt, in der
Wahrheit und Lüge ununterscheidbar sind, ist dieses Mittel obsolet. Das
zeigt sich an einem Film wie „Lost Highway“ (von dem ein Kapitel des
Buches handelt). Dadurch, dass der Zuschauer keine Distanz zum Erzähler
mehr hat (das genau ist der Modus dieser Erzählung!), kann er nicht
mehr unterscheiden, ob Fred nun der Mörder ist oder nicht und ob Pete
und Fred dieselben Personen sind.

Diese Distanzvernichtung ist ja mittlerweile ein sehr beliebtes Mittel
zur Zuschauerverwirrung: Videodrome, Lost Highway, High Tension. Alles
Filme, die genau von dieser Indifferenz ihr Potenzial ziehen. Ist die
Frage von Wahrheit und Lüge also abhängig von der Perspektive, die uns
der Film bietet (wenn man der Annahme folgen mag, dass wir die
„Subjektive“ des Protagonisten einnehmen, diesen aber sehen, als wäre
er „objektiv“ im Bild)?

Es ist wohl etwas mehr: Nicht die Distanz zum Erzähler, sondern die
Distanz zur Erzählung, zum Erzählten scheint zu bestimmen, ob wir
zwischen Wahrheit und Lüge unterscheiden können. In einem Film wie
„eXistenZ“ (ebenfalls ein Kapitel des Buches) bildet die Geschichte
dieses Problem plastisch ab: Die Erzählung selbst ist prinzipiell
endlos in sich verschachtelt (so deute ich zumindest den Schlusssatz
des Films): Nie können wir auf eine Ebene ankommen, die sich als die
„oberste“ und damit „objektive“ erweist und uns den „totalen Überblick“
ermöglicht. Der Film bricht einfach ab. Wir sind für 90 Minuten in sein
System eingedrungen und werden dann abrupt daraus ausgesperrt. Im
Prinzip ist und bleibt er für uns eine „Black Box“ (Lynch
versinnblildlicht dies sehr schön in seinem McGuffin in „Mulholland
Drive“).

Die mediale Hyperrealität, von der Baudrillard sagt, in ihre wäre es
„als wären wir (nicht) dabei gewesen“, ist der Name dieses Phänomens.
Baudrillards „(nicht)“ ist dabei die Indifferenz von Wahrheit und Lüge
des Mediums. Denn dieses gaukelt uns durch Auflösung der Erzählgrenzen
(auf vielfältigste Weise: durch Schleifenartigkeit wie in „Lost
Highway“ oder durch endlose Verschachtelung wie in „eXistenZ“) das vor,
was es will. Ds ist jedoch kein „unmoralisches“ Belügen, wie bei
Hitchcock, sondern ein „ehrliches“: Film gibt damit zu, dass er jedes
beliebige Verhältnis zur Wahrheit als einer im prinzipiell nicht
inhärenten Kategorie einnehmen kann. Mehr noch: In dem diese Filme auf
die Ununterscheidbarkeit pochen, zwingen sie auch die Frage nach der
Authentizität von Bilder abermals aufzuwerfen. Man könnte sagen: Indem
ein Film sich so „naiv“ gibt, eine Wahrheit zu behaupten (solch eine
Wahrheit, auf der jede konventionelle Erzählung basiert), lügt er
bereits „prinzipiell“.

Das Buch – von dem ich in den kommenden Tagen die weiteren Kapitel
lesen werde, beschäftigt sich anhand von 8 Filmen mit dieser
Fragestellung und den jeweiligen Aspekten von „Wahrheitsfähigkeit“ des
Films:

  • Blow up (Wahrheit als perspektivabhängig)
  • The Sting (Wahrheit in Abhängigkeit von filmtechnischen Mitteln)
  • Rashomon (Wahrheit aus unterschiedlichen Erzählerperspektiven und wie die Bilder sich dazu verhalten)
  • The Draughman’s Contract (Wahrheit abermals durch Perspektivität und durch Doppeldeutigkeit)
  • La vida es silbar (Verhältnis von Ideologie, Zensur und kollektiver Lüge)
  • Schwarze Katze – Weißer Kater (Wahrheit als Narretei verkleidet)
  • eXistenZ (Wahrheit im hyperrealien Raum) *
  • Lost Highway (Dekonstruktion des klassischen Lügenbegriffs)

* in diesem Beitrag wurden auch zwei Texte von F.LM und meiner Homepage als Sekundärliteratur diskutiert.

Literatur:

  • S. Kracauer: Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit. Frankfurt 1973
  • H. Weinrich: Lingusitik der Lüge. Heidelberg 1974
  • A. Baruzzi: Philosophie der Lüge. Darmstadt 1996
  • S. Dietzsch: Eine kleine Kulturgeschichte der Lüge. Leipzig 1998
  • M. Bettentini: Eine kleine Geschichte der Lüge. Von Odysseus bis Pinocchio. Berlin 2003

Über Stefan Höltgen

siehe: http://about.me/hoeltgen
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