F.A.Q. Über Simulationsraum 1/3

Was ist Simulationsraum?

„In einer demokratischen Kultur werden die wichtigsten Anliegen
an den zugänglichsten Orten verhandelt: in der Trivialität.
Nicht die philosophischen Seminare, sondern Populärkultur und
Massenmedien verhandeln, wenngleich verkappt,
die drängenden Grundfragen der Zeit.“
(Lorenz Engell)

Was ist Simulationsraum?

Zunächst bezeichnet „Simulationsraum” einen Raum, in dem Experimente gemacht werden. Diese Experimente sollen in einer simulierten Umgebung stattfinden, um eine virtuelle Situation, die außerhalb des Labors vielleicht gar nicht existiert, möglichst perfekt inszenieren zu können. Auf diese Weise können Verfahren, Materialien und Methoden getestet werden, die später in einer dem Simulationsraum ähnlichen Umgebung zur Anwendung kommen. Simulationsräume können real oder virtuell (im Computer) sein.

Auch in der Medientheorie gibt es Simulationsräume: 1990 schreibt Jean Baudrillard in „Das Jahr 2000 findet nicht statt": „Vor allem die modernen Medien haben jedem Ereignis, jeder Erzählung und jedem Bild einen Simulationsraum mit grenzenloser Flugbahn eröffnet. Jedes Faktum, jedes politische, historische oder kulturelle Merkmal erhält bei seiner Verbreitung durch die Medien eine kinetische Energie, die es für immer seinem eigenen Raum entreißt und in einen Hyperraum vorantreibt … Wir brauchen keine Science-fiction mehr.” (Baudrillard 1990, 9) Hier beschreibt Baudrillard – mit einem von seiner Simulationstheorie etwas abweichenden Vokabular – wie sich reale Ereignisse in den Medien „verhalten": Entbunden von ihrer Faktizität bekommen sie ein durch das Medium und seine Diskurse gespeistes „Eigenleben". Sie werden verkürzt oder ergänzt … da dies im „Hyperraum” (ein anderer Ausdruck von „Hyperrealität") stattfindet, unterliegen sie nicht mehr den Kategorien von wahr und falsch. Ihre Wahrheit ist nicht mehr nachweisbar.

Mein Verständnis von Simulationsraum basiert auf Baudrillards Simulationstheorie. Baudrillard schreibt 1978 in „Die Agonie des Realen", dass live übertragene Dokusoaps einen Effekt simulieren würden, der beim Zuschauer den Eindruck erweckt „als ob wir [also das Filmteam, SH] nicht dabei gewesen wären” was für Baudrillard denselben Stellenwert „als ob Sie [also die Zuschauer, SH] dort gewesen wären.” (Baudrillard 1978, 45). Hier kommt bereits ein räumliches Vermögen von Medien (speziell den Bildmedien) zum Ausdruck: Sie können die Raumgrenze zwischen Zuschauer und Darstellung scheinbar auflösen. Sie etablieren einen „Raum", in dem beides stattfindet: die Zuschauerpräsenz und die mediale Erzählung.

In seinem Buch „Medien-Zeit – Medien-Raum” zeichnet Götz Großklaus 1997 die These Baudrillards historisch nach: Er untersucht die (mediale) „Zeichenwerdung der Welt” (Großklaus 1997, 8) in Hinblick auf die Auswirkungen auf unser Raum- und Zeit-Verständnis: „Die ikonische Simulation des Fernsehens zielt auf die Verwischung der Grenzen zwischen traditionell getrennten Raumbereichen des Nahen=Eigenen und den Fernen=Fremden; des Privaten und des Öffentlichen; des Intimen und des Spektakulären.” (130)

Aus dieser „Verwischung", Grenzauflösung oder -überwindung resultiert nicht das Verschwinden des Raums, sondern die Indifferenz der Räume, deren Grenzen verwischt wurden. Ein Effekt, der sich im Kino sehr leicht nachvollziehen lässt: „Von der Rezeptionsseite stellt der abgedunkelte Kinoraum mit der magisch erleuchteten Leinwand […| schon den simulatorischen Kontext dar, aus dem die spezifisch einbeziehende und teilnehmende Wahrnehmung von ikonischer Simulation möglich wird.” (Großklaus 1997, 125) Für das Fernsehen konstatiert er einen ähnlichen, jedoch viel radikaleren Effekt, denn dort wird die Simulation durch das Phänomen der „Echtzeit” noch potenziert, denn die „Echtzeit allein verbürgt das Authentische des Bildes – alles, was zeitlich aus diesem simultanen Feld, in dem Ereignis und Fernwahrnehmung zusammenfallen, herausfällt und nachzeitig wird [wie im Kino, SH], verliert an Authentizität. Vor allem aber geht die simulatorische Kraft verloren, die Erlebniszustände des unmittelbaren Dabei-Seins, der Teilhabe und Nähe erzeugt. Das Echtzeit-Bild simuliert räumliche Nähe bei realer Ferne – simuliert Intimität bei realer Öffentlichkeit der Fernseh-Institution – simuliert Öffentlichkeit bei realer Privatheit der Betrachter-Situation.” (Großklaus 1997, 130)

In der Computersimulation erreicht der Simulationseffekt ein Maximum: „Der Computer ist eine Möglichkeits-Maschine, in der sich das simulatorische Vermögen absolut setzt.” (Großklaus 1997, 135) Die „Möglichkeiten", die der Computer bei der Generierung jedweder „Realität” hat, finden ihre Grenzen nur noch in der Kreativität des Programmierers. Raum- und Zeitdifferenz zwischen dem in Echtzeit generierten Bild und seinem Betrachter sind verschwunden. „Die Visualisierungsgeschichte unserer Kultur gipfelt in der Erzeugung eines abstandslosen Bildes von Wirklichkeit und Möglichkeit, in der visuellen Simulation des Jetzt und Hier, im Zusammenfall aller raumzeitlichen Trennungen und in der enormen Verdichtung des präsentischen Augenblicks.” (Großklaus 1997, 141f.)

Beziehen wir diese Möglichkeiten medialer Entgrenzung und Annäherung auf meine Vorstellung von Simulationsraum, so erhält dieser folgende Eigenschaften:

  1. Er „präsentiert” alle möglichen Ereignisse in nächster Nähe und absoluter Unmittelbarkeit.
  2. Er nivelliert die Unterschiede zwischen Nah und Fern (seien sie zeitlicher oder räumlicher Art).
  3. In ihm haben die Kategorien von wahr oder falsch keine Gültigkeit – denn ein Ereignis im Simulationsraum veri- oder falsifizieren zu wollen, würde eine Metaperspektive voraussetzen.

Das Problem dieser Perspektive liegt in der Ununterscheidbarkeit von Subjekt und Objekt, die sich durch die Entgrenzung unendlich aneinander annähern. Zudem übertragen die Medien nicht nur Informationen, sondern auch ihr Verständnis des Realen, das für den Rezipienten während der Rezeption unhinterfragbar ist, weil er – nach der Simulationstheorie – selbst Teil der Erzählung wird.

Stefan Höltgen
(im September 2003)

Über Stefan Höltgen

siehe: http://about.me/hoeltgen
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