»Don’t you fuckin‘ look at me!«

Lost Highway (USA 1997, David Lynch) (DVD)

Am Ende einer längeren Studie zu den Filmen David Lynchs habe ich einmal behauptet: Sich einzugestehen, „Lost Highway“ nicht zu verstehen ist der erste Schritt zum Verständnis von „Lost Highway“. Das klingt paradox, ja, vielleicht sogar ein wenig esoterisch. Gemeint ist damit aber dreierlei. Erstens: Der Film „verbaut“ uns den verstehenden Zugang über den Plot, weil er eine Reihe von Unwägbarkeiten und Hindernissen einfügt, die einander widersprechen und jede entstehende Theorie über die Handlungszusammenhänge und Bedeutung desavouieren. Zweitens meine ich, dass diese Hindernisse zu erkennen und sie bewusst „zu umfahren“, also einen narrativen Zugang zum Film zu vermeiden, eine mögliche und ganz passable Art den Film zu verstehen sein kann. Und drittens bringt diese Aussage den Zuschauer als aktiven Part der Sinnproduktion ins Spiel – aber weit mehr, als es die Rezeptionstheorie denkt.

Nachdem Lynch 1986 „Blue Velvet“ in die Kinos gebracht hatte, wandte er sich einem anderen Medium zu: dem Fernsehen. 1990 und 1991 entstand seine Fernseh-Serie „Twin Peaks“, die wohl maßgeblich für den „verundeutlichenden Stil“ Lynch verantwortlich gemacht werden kann – zumindest jedoch das erste Werk dieser Art in seinem Ouevre darstellt: In „Twin Peaks“ gibt es ebensolche Lücken und Hindernisse, wie in den späteren Filmen Lynchs. Er setzt dieses Verfahren fort: Nach dem für Lynch’sche Verhältnisse recht konventionell erzählten Film „Wild at Heart“ von 1990 ist sein nächstes Kinoprojekt ein Prequel zur „Twin Peaks“-Serie, das, wie ich finde, immer noch den komplexesten Beitrag in seinem Werk ist. Lynch resümmiert seine Erfahrungen mit dem Medium Fernsehen mit der Aussage, dass der einzige Vorteil dieses Mediums die Möglichkeit sei, eine Geschichte über längere Zeit weiterzuerzählen. Die Scharniere – so genannte „cliff hanger“ – zwischen den einzelnen Folgen setzt er schon bei „Twin Peaks“ zur „Verundeutlichung“ des Plots ein. Diese Scharniere implementiert der Regisseur auch in seine darauf folgenden Spielfilme.

„Lost Highway“ ist in mancherlei Hinsicht also auch als ein Versuch zu verstehen, sich wieder von der TV-Ästhetik zu lösen, dabei jedoch deren gewinnbringenden Elemente beizubehalten. Die Omnipräsenz der elektronischen Bildmedien Fernsehen und Video in nahezu jedem Haushalt ist dabei ein entscheidendes Element von „Lost Highway“. Videokassetten und Kameras sind die Motive, mit denen Lynch in diesem Film seine Scharniere füllt. Indem er diese Medien an entscheidenden Stellen des Films inszeniert, wendet er sich an das Alltagswissen seiner Zuschauer: Man kann nicht mit der Videokamera filmen und gleichzeitig von ihr gefilmt werden. Das ist das Gesetz, gegen welches Fred Madison verstoßen hat. Und weil der Zuschauer von „Lost Highway“ dieses Gesetz kennt, fügt Lynch eine Figur ein, die die Videokamera bedient, die vom hinteren Ende in die Kamera schaut.

Eine Einstellung am Ende des Films zeigt uns diese Figur und ihre Videokamera. Lynch holt damit nicht nur den Akt des Bilderzeugung auf die Leinwand und stört damit die Kontemplation seiner Zuschauer; die Inszenierung der Kamera erlaubt es ihm, ein ehernes Gesetz des Filmemachens zu brechen, gegen Frank Booths Warnung aus „Blue Velvet“ zu verstoßen: „Don’t you fuckin‘ look at me!“. Seit den Tagen D. W. Griffiths gilt nämlich, dass der Darsteller nicht in das vordere Ende der Kamera blicken darf. Der Kinozuschauer muss sich auf die Halbdurchsichtigkeit der „vierten Wand“ verlassen können. Er darf nicht angeblickt werden und damit selbst in den Filmraum und den filmischen Diskurs „hinein zitiert“ werden. In „Lost Highway“ wird diese vormals „semipermeable Membran“ jedoch ständig von beiden Seiten „durchschaut“. Die Blicke in die im Film dargestellten Kameras werden von Lynch konsequent in Schuss-Gegenschuss-Montagen mit Blicken aus diesen Kameras beantwortet – der Protagonist blickt also in beide Kameras, die im Film und die des Films.

Der angeblickte Zuschauer, also wir selbst, muss darauf reagieren. Er ist sich seiner heimlichen Beobachterposition nicht mehr sicher (so unsicher, wie Jeffrey Beaumont im Schrank Dorothy Vallens‘). Er wird zur Mitkonstruktion der Erzählung eingeladen. Die Verdopplung des Blickens über das Medium könnte ein Anlass für ihn sein, über die Funktionsmechanismen des Films zu reflektieren. Ist Film ein dokumentarisches Medium? Ist Film eine Erinnerungsspur? Ist Film ein Beweismittel? Ist Film ein Erzählmedium? Und schließlich: Lässt sich ein Film wirklich verstehen? Das sind Fragen, die innerhalb von „Lost Highway“ gestellt werden. Zwischen den die Kriminalerzählung forcierenden Sequenzen des Films, wendet der Erzähler sich in den Scharnieren uns zu und stellt uns diese Fragen. Wir sind gehalten, ihm zu antworten, indem wir Theorien über die Bedeutung von „Lost Highway“ entwerfen.

In Interviews betont Lynch immer wieder, dass er sich einen emanzipierten Zuschauer wünscht. Er beantwortet Fragen zur Bedeutung seiner Filme oder einzelner Szenen stets mit derselben Phrase: „Sicherlich, ich könnte Ihnen jetzt sagen, was das bedeutet. Aber Ihre Reaktion wäre dann nur: Ja, das leuchtet ein.“ (aus einem Interview über „Eraserhead“). Lynch stellt sich als Autor – streng nach dem Diktum Foucaults – auf eine Stufe mit dem Leser/Zuschauer. Seine Interpretation ist genauso schlüssig wie die seiner Rezipienten. Doch so ganz scheint er sich von seiner emanzipierten Position nicht gelöst zu haben: Immer noch ist er es, der uns die Rätsel aufgibt. Lynch verfährt so im Prinzip „wissenschaftlich“, wenn er die eben genannten Fragen formuliert und in „Lost Highway“ auch seine Antworten darauf liefert: Film ist nicht dokumentarisch, Film und Erinnerung widersprechen einander, Film kann nichts beweisen, Film kann nur subjektiv erzählen, Film lässt sich nicht verstehen. Auf diese Weise kehrt der Autor zurück – als „Film-Wissenschaftler“ (denken Sie sich einen bedeutsamen Bindestrich zwischen beiden Worten), der uns mit seinen Theorien infiziert. Wir können ihm – wenn auch nicht auf dem selben Wege – antworten. Und das tun wir ja auch.

Stefan Höltgen

Über Stefan Höltgen

siehe: http://about.me/hoeltgen
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Eine Antwort zu »Don’t you fuckin‘ look at me!«

  1. Bubble-Waffeln sagt:

    Sie haben ein einzigartiges Talent für das Schreiben. Dieser Artikel war informativ, ansprechend und wunderschön geschrieben.

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