Theoriekonsistent

Wahnsinnig verliebt (À la folie… pas du tout, F 2002, Laetitia Colombani) (TV)

Es ist mir vorgeworfen worden, ich hätte den Hang, Theorien auf Filme zu applizieren. Aus derselben Richtung kam die Meinung "Wahnsinnig verliebt" sei ein doofer Film.

Und dabei ist er doch ein so hervorragendes Beipiel für die Applizierbarkeit von Theorien auf Film.

Erzählt wird eine Liebesgeschichte aus zwei Perspektiven: Eine junge Frau verliebt sich in einen erfolgreichen Kardiologen und behauptet überall, mit dem verheirateten Mann eine Affäre zu haben. Nach und nach beginnt sie sich in sein Leben einzumischen, was soweit geht, dass sie eine seiner Patientinnen ermordet, die ihn wegen Tätlichkeiten anzeigen will. Als der Arzt sich dennoch nicht zu der ihm ja eigentlich unbekannten Frau bekennt, versucht diese sich das Leben zu nehmen. Der Film spult hier an den Anfang zurück und zeigt dieselbe Geschichte noch einmal aus seiner Perspektive. Er empfängt Geschenke einer unbekannten Verehrerin und zeigt sich zusehends davon belästigt. Er beginnt Menschen aus seinem Umfeld – vor allem Patientinnen – zu verdächtigen, mit diesen Nachstellungen seine Existenz zu bedrohen. Seine Paranoia mündet in einen tätlichen Agriff gegeüber einer Patientin, von der er annimmt, sie sei die geheime Verehrerin und wolle seine Ehe zerstören. Als die Frau tot aufgefunden wird, verhaftet die Polizei ihn als Hauptverdächtigen.

"Wahnsinnig verliebt" wäre bestens zum Einsatz im universitären Filmtheorie-Unterricht geeignet. Kaum ein Film ist mir bekannt, der die suggestive Wirkung von Montage (den so genannten "Kuleschow-Effekt") so deutlich sichtbar mach wie dieser. Der Zuschauer wird in der ersten Hälfte ständig verführt zu glauben, die junge Frau und der Arzt hätten wirklich eine Beziehung. Um diesen Eindruck zu erwecken, schneidet der Film Szenen mit den beiden dialogisch aneinander, die narrativ (und räumlich!) eigentlich vollständig getrennt sind. Im zweiten Teil wird dieser Effekt als Lüge desavouiert – doch tritt hier eine andere Form des Kausalitätswahns an den Tag: die Paranoia. Der Arzt verdächtigt jeden in seinem Umfeld und sucht nach Anhaltspunkten in jeder noch so unbedeutenden Handlung. Hierzu liest und deutet er das Verhalten der Personen, die ihn umgeben und versucht daraus eine "mentale Erzählung" zu konstruieren. Wer an dieser Stelle an Watzlawicks psychologischen Konstruktivismus denkt, liegt da nicht so falsch.

Wahnsinnig verliebt führt beide Konstruktivismen miteinander eng: Er verdeutlicht, wie filmische und psychische Montage (den Eindruck von) Kausalität erzeugt, wo eigentlich keine ist; wie wir dir Welt über Bilder- und Ereignisketten wahrnehmen. Ein perfekter Film zur Illustration der Stimmigkeit dieser Theorien. Der oben angesprochene Ablehner des Films (und Gegener der Theorieapplikation) ist übrigens auch ein ausgesprochener Feind des Konstruktivismus. 😉

Über Stefan Höltgen

siehe: http://about.me/hoeltgen
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3 Antworten zu Theoriekonsistent

  1. korken sagt:

    „Der Zuschauer wird in der ersten Hälfte ständig verführt zu glauben, die junge Frau und der Arzt hätten wirklich eine Beziehung.“
    Tja, und in Wirklichkeit haben sie keine. Dein Rekurs auf das Wirkliche zeigt doch schon, dass der Film eine gewisse Prädikation nahe legt, die er am Ende als falsch desavouiert. Als falsch! Wir haben uns über die „brute facts“ geirrt, bzw. hat der Film nur die Informationen in die Engführung der beiden Welten eingespeist, die genau nur eine These zulassen. Von einem material gerechtfertigten Konstruktivismus kann also überhaupt nicht die Rede sein. Selbst die Protagonistin für die man das hätte gelten lassen können ist ja am Ende nur noch eine Wahninnige.

    Zur suggestiven Film-Montage : Ja sicher funktioniert Montage in der Weise, dass assoziativ Beziehungen hergestellt werden und Raumvorstellungen etabliert werden. Dieses aber gerade aufgrund einer gewissen Regelverläßlichkeit im bezug auf die inner- wie außerdiegetische Welt. Davon abgesehen lässt sich der präsentierte Raum eines Filmes nach der Lektüre rekonstruieren, mal sehen wie viele Deutungen dann noch übrig bleiben.. 😉

  2. Stefan sagt:

    1. Nö, wir haben uns nicht über die „brute facts“ geirrt, denn von der Warte des Mädchens aus hatten die beiden eine Beziehung. Sie hat am Ende ja nicht Suizid versucht, weil ihre Suggestion aufgeflogen ist, sondern weil sich ihre psychotische Weltsicht nicht mit der Realität gedeckt hat. Der Film vermittelt genau diese Katastrophe und ist deshalb eine kongeniale Bebilderung von Watzlawicks psychologischem Konstruktivismus. („Anleitung zum Unglücklichsein“, …)

    2. „gewisse Regelverlässlichkeit“ ist das Stichwort. Damit spielt der Film und weil er gegen diese Verlässlichkeit verstößt, macht er uns beim Übergang von ersten zum zweiten Teil darauf aufmerksam, dass diese Regel bei der (gewöhnlichen) Rezeption unbewusst affirmiert wird. Und klar: Nach der Lektüre ist man immer schlauer … es geht mir doch aber um den Prozess, der während der Lektüre stattfindet. Als Hermeneutiker weißt du doch, wie steinig/wichtig dieser Weg auf der Suche nach dem Sinn ist. Der Film verbaut den Weg durch falsche Lektüreinstruktionen. Deshalb ist er ja so gut (bzw. schlecht 😉 ).

  3. korken sagt:

    Zu 1:
    Die Warte des Mädchens ist zur Beurteilung der vermeintlichen Beziehung aber unerheblich, denn es hat objektiv keine Liebesbeziehung gegeben. Insofern ist die Projektion der Figur krankhaft und das wird ja auch genau so markiert; aber damit ist genau das auch kein Normalmodell sondern eine Pathologie und deshalb wohl kaum ein Beleg für einen prinzipiellen Konstruktivismus.

    2. Was aber daran soll noch konstruktivistisch sein? Der Film legt falsche Fährten, wie ein Thriller das nunmal tut und wie ein Hitchcock das schon besser konnte. Es wird ja genau diese falsche Fährte affirmiert, weil es keine Alternative dazu gibt die im ersten Moment wahrscheinlich ist. Der Regisseur setzt also gerade bewusst diese Regelverläßlichkeit ein um zu täuschen. Würde er gegen die Regelverläßlichkeit verstoßen, so fühlte man sich am Ende gerade nicht um die Wahrheit getäuscht, sondern man wäre einer Veralberung gefolgt.

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