Behinderte Zukunft (D 1971, Werner Herzog) (DVD)
Die "Werner Herzog Doku"-Box birgt einige Schätze. Als erstes habe ich mir Herzogs Dokumentarfilm über die Opfer des Contagan-Skandals angeschaut.
Herzog interviewt behinderte Kinder und Jugendliche, lässt deren Eltern, Lehrer und Pfleger zu Wort kommen und fragt nicht-behinderte Kinder über ihr Verhältnis zu den Behinderten. Erstaunlich an dem Film ist, dass man sofort sieht, wie konstruiert die Problemstellung des Films ist – wie "außengesteuert" das Mitleid ist, das der Film zu dokumentieren versucht.
Da sind einerseits die Suggestivfragen, mit denen der Interviewer an die Behinderten und die Nicht-Behinderten heran tritt. Besonders anfangs auf dem Kindespielplatz, als die Kinder über ihre Kontakte zu den Behinderten befragt werden, wird deutlich, wie wichtig die "richtigen" Antworten für das Folgende sind. Dann sind es die Lehrer, die – ob durch die Filmsituation "angeregt" oder nicht, lässt sich nicht entscheiden – das Verhalten und die Aussagen der Kinder unbedingt als Ausdruck ihrer Behinderung interpretieren wollen. Da werden Kinderzeichnungen mit gewichtigen Bedeutungen überfrachtet und als ein kleines Mädchen, das sich selbst mit Tränen im Gesicht gezeichnet hat, befragt wird, warum es auf dem Bild weint, merkt man deutlich, dass weder die Lehrerin noch das Filmteam mit der Antwort zufrieden sind: Es seiens Abschiedstränen, wenn man von zu hause fortgeht. Um die Antwort abzuschwächen, schneidet Herzog in die ansonsten in Plansequenz aufgenommene Szene sogar eine kurze Sequenz, in welcher das Kind traurig guckt, hinein.
Zentral für die konstruierte Authentizität scheint mir aber ein Gespräch zwischen zwei der behinderten Kinder. Ein kleines Mädchen, das zuvor schon von seinen Tagträumen über Indianer berichtet hat (obwohl der Intervier ganz deutlich eine andere Antwort auf seine mehrfache Frage "Wovon träumst du?" hören wollte), unterhält sich mit einem andere "Kind" und antwortet diesem auf seine Fragen über Indianer. Die Art und Weise, wie die Fragen gestellt werden, wie das rhetorische Gefälle zwischen beiden deutlich wird, erinnert derartig stark an Sprechszenen aus "Auch Zwerge haben klein angefangen" und die Monologe des Herrn Scheitz aus "Kaspar Hauser", dass der Verdacht, es hier mit "scripted reality" zu tun zu haben, kaum zu unterdrücken ist.
Dies alles sei keineswegs als Kritik zu verstehen. Die Art und Weise, wie der Film versucht unsere eigenen Ressentiments und Einstellungen Behinderten gegenüber (ok, wie sie 1971 gewesen sein mögen) zu inszenieren, ist ganz und gar auf der Basis von Herzogs konstruierten Dokumentarischen zu verstehen. "Behinderte Zukunft" wirkt eine Vorstudie für den im selben Jahr entstandenen "Im Land des Scheigens und der Dunkelheit", der dasselbe Thema auf noch radikalere Art konstruiert behandelt.



