The Boston Strangler (USA 1968, Richard Fleischer) (DVD)
Der Film, den ich bislang noch gar nicht gesehen hatte und der jetzt auf meinem Abarbeitungsplan für die Diss. steht, hat mich ziemlich überwältigt.
Fleischer adaptiert den "Tatsachenbericht" des amerikanischen Journalisten Gerald Frank, der 1964 in seinem Buch "The Boston Strangler" den Fall des mutmaßlichen 13-fachen Frauenmörders von Boston, Albert DeSalvo beschrieb. Fleischers Film geht dabei zweigleisig vor: In der ersten Hälfte schilder er die Reaktion der Stadt Boston auf die zusammen hängenden Frauenmorde: Die sich ausbreitende Hysterie, die Medienkampagne, die – wie immer – mehr die Arbeit der Polizei im Visier hat. Letztere ist ziemlich ahnungs- und hilflos. Der Täter hinterlässt zwar eine eindeutige Handschrift, aber keinerlei Spuren, die die Ermittler auf seine Fährte führen könnte. Und so sind es allenfalls Warnungen an die weibliche Bevölkerung, die die Polizei anzubieten hat.
Nach etwa einer Stunde stellt Fleischer seinem Publikum den Täter vor. Albert DeSalov (hervorragend gespielt von Tony Curtis) wird als Familienvater vorgestellt. Dennoch treibt es ihn regelmäßig aus dem Haus und zu seinen Opfern, die er wahllos überfällt, vergewaltigt (was der Film bestreitet), ermordet und in oft grotesken Stellungen den Findern hinterlässt. Als DeSalvo zufällig gefasst wird, als er in eine Wohnung einbrechen will, zeigt der Film das ganze Ausmaß des Wahnsinns beim Täter. Dieser leidet angeblich unter einer dissioziativen Persönlichkeitsstörung. Eine Persönlichkeit weiß dabei nicht, was die andere tut (oder getan) hat. Insofern ist sich DeSalvo keiner Schuld bewusst und überlagert die Taten seines "alter ego" mit Handwerksaufgaben, die er zur Tatzeit ausgeführt haben will. Die Ermittlungsarbeit wird nun zusehends zu einer Wanderung durch DeSalvos Psyche und schließlich erkennt der Täter, wer er wirklich, bzw. zu anderen Zeiten ist.
Fleischer geht in beiden Filmteilen erzählerisch und filmtechnisch äußerst geschickt vor. Im ersten Teil sind es immer wieder Film-im-Film-Inserts (wie sie später etwa bei Greenaway häufig Verwendung finden), mit denen er die Arbeit der Polizei und die Reaktion der Öffentlichkeit vorführt. Das Verfahren, das auf der einen Seite start de-authentisierende Züge trägt, weil es die versunkene Rezeption durch Hinweis auf den Apparat "stört", erhält auf der anderen Seite authentisierende Züge dadurch, dass es ein historischen Momentbild aufzufangen versucht. Fleischer unterstreicht dies immer wieder dadurch, dass er zeitgenössische Historeme (das Begräbnis Kennedys, die Rückkehr einer Raumfahrer-Mannschaft, …) in seine Handlung einwebt. Diese historischen Anker wirft der Film regelmäßig aus, um sich einerseits seiner Zeitgenossenschaft zu versichern. Andererseits kennzeichnet er hierin schon das Wesentliche des Fernsehzeitalters, das Baudrillard damit beschreibt, dass der Zuschauer stets "dabei" ist. Und hierin korrespondieren dann auch die Film-im-Film-Inserts: Wir sehen nicht einen Ausschnitt der Wirklichkeit, sondern viele (Fleischer suggeriert: alle) Aspekte der Wirklichkeit, die mit dem Fall zu tun haben. Das Gefühl "dabei" zu sein, wenn irgend etwas, das mit dem Fall zu tun hat, passiert, wird dadurch potenziert.
Der zweite Teil des Films nimmt sich dagegen ausgesprochen "intim" aus. Hier tauchen die Film-im-Film-Inserts nur noch sehr selten auf. Jetzt ist es die Exploration der Erinnerung DeSalvos, der sich der Film verschreibt. Und wiederum gelingt es Fleischer dies filmisch raffiniert umzusetzen. Die gemeinsame Rekonstrukton von DeSalvos Erinnerungen geschieht dadurch, dass er sich "zusammen mit dem Film" in "Flashbacks" erinnert. Blitzartig tauchen Bilder auf, die mit den Erzählungen DeSalvos nicht zusammen zu passen scheinen. Der Polizist bildet hier mehr und mehr so etwas wie eine "hermeneutische Stütze": Er interpretiert diese Flashbacks und gelangt dadurch zusehends selbst in die Erinnerungsbilder DeSalvos. Schließlich sehen wir Szenen aus der Erinnerung des Mörders, in denen sich beide Figuren aufhalten.
Nach eigenen Angaben sah Fleischer seinen Film als Unterstützung DeSalvos, falls es zu einem Strafprozess kommen sollte (zu dem es nie kam) an. Der Film sollte die Hypothese Fleischers (oder Franks?), dass DeSalvo an MPS leide, unterstreichen. Hierin erlangt der Serienmörderfilm eine neue Potenz: Er interpretiert nicht mehr nur in den kriminologischen und kriminalhistorischen Diskurs, er will darüber hinaus ein Bestandteil dessen werden. Noch deutlicher wird dies in späteren Filmen wie "Deranged".
"The Boston Strangler" ist ein sehr nachhaltiges Werk, das etliche Momente der Geschichte des Serienmörderfilms aufnimmt und weiterspinnt. Die Art und Weise, wie er das tut, ist richtungweisend geworden und selbst Jahrzehnte später immer noch "origninell" (vgl. "The Cell").



