Schon vergessen?

Vertigo (USA 1958, Alfred Hitchcock) (DVD)

Gerüchten zufolge soll Hitchcock den Namen seines Protagonisten "John Ferguson" nach einer Legende aus der Emigrationszeit jüdischer Einwanderer in Amerika ausgewählt haben. Auf die Frage der Einwanderungsbehörden nach dem Namen antworteten viele auf Jiddisch "vergessen", was sich für den Beamten wie "Ferguson" angehört haben soll. Das Vergessen zieht sich nicht nur durch den Plot des Films – es greift vor allem auch auf seine Behandlung durch Filmgeschichte und -analyse über. "Vertigo" war jahrelang als mittelklassiger Hitchcock-Film in den Archiven verstaubt und drohte bereits zu zerfallen, bis er für eine Laserdisc-Aufbereitung aufwändig restauriert wurde. Da hatten ihn die Filmanalytiker – allen voran die Semiotiker und Psychoanalytiker – bereits für sich entdeckt und ihre Theorien daran gespeigelt.

In einem Einführungsvortrag zum Filmscreening gestern wurde eine solche Lesart vorgestellt, die – in etwa – die beiden Teile der Erzählung ins Verhältnis den in ihnen dargestellten Blick-Konstruktionen ins Verhältnis setzt. Bedauerlicherweise entfernt sich diese Lacan’sche/Mulvey’sche Lektüre alsbald so weit vom Text, dass sie zu dem Plot des Films diametral entgegenstehenden Aussagen kommt. So ist es in der Erzählung "Vertigos" so, dass Scottie im ersten Teil des Films das Opfer einer Verschwörug wird, in der gerade die Berechnung und Verschlagenheit der Frau es ist, die ihn, den vermeintlich Dominanten, in die Krise stürzt. Im zweiten Teil versucht sie ihre Strategie erneut anzuwenden, wird von Scottie jedoch aufgrund eines Details überführt. Nun ist es wiederum sein Blick, der konstruiert – zunächst einen Körper, dann eine Erzählung.

Der Analyse der Blick- und damit Macht-Konstellationen der Erzählung muss des weiteren gegenüber gestellt werden, dass Scottie sich ja keineswegs ein Phantasma konstruiert, wenn er Judy nach und nach in Madelaine verwandelt – vielmehr (und das ist die frappierendste Fehlsicht einer solchen Analyse) sind Judy und Madelaine ja identisch! Das wird dem Zuschauer noch vor dem Protagonisten klar. Hier wäre zu überlegen, ob man die Theorie entweder über den Plot erhaben macht (indem man etwa die gesamte Erzählung "Vertigos" als Phantasma des Autors Hitchcock oder des Zuschauers exkulpiert) oder einfach mal versucht, die Fakten mit der Theorie in Einklang zu bringen. (Damit hatte Laura Mulvey zumindest aber schon immer die größten Schwierigkeiten.)

P.S. Kim Novak im grünen Kostüm ist die wahre Sex-Göttin den 50er-Jahre-Kinos. 🙂

Über Stefan Höltgen

siehe: http://about.me/hoeltgen
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