Early Greenaway Compilation 2 (GB 1976-80, Peter Greenaway)
Auf der zweiten DVD sind „nur“ zwei Filme:
The Falls (1980)
Vertical Feature Remake (1976)
„The Falls“ ist
ein mehr als dreistündiges Projekt, bestehend aus 92 Kurzbiografien von
Menschen, deren Nachname mit der Buchstabenfolge „Fall“ beginnt.
Grundproblem aller 92 Personen ist ein in ihr Leben einbrechendes
„Violent Unknown Event“, das eng geknüpft an ihren Lebenswandel, ihre
Hobbies und Passionen, ihre Entwicklung usw. ist. Greenaways Leitmotive
„Fliegen“, „Ornithologie“ und immer wieder in seinen Filmen
auftauchende Figurennamen (etwa „Tulse Luper“ – zu diesem weiter unten)
werden in „The Falls“ zu einem dichten Erzählgewebe aus Referenzen,
Anspielungen und Variationen bekannter Themen vermengt. Begleitet
werden die 92 unterschiedlich langen und auf optisch wie dramaturgisch
unterschiedlichste Weise erzählten Begebenheiten von dem bereits aus
den anderen Kurzfilmen bekannten Off-Kommentar Colin Cantlies und der
sehr eingängigen Musik Michael Nymans.
„Vertical Feature Remake“
behandelt zentral das Problem von Autorschaft Intention (wie es sich
analog in der diachronen Literaturwissenschaft findet): Nach und nach
aufgefundene Skizzen und Treatments des wissenschaftlichen
Experimentalfilmers „Tulse Luper“ (der Film gibt einige Hinweise
darauf, dass es sich dabei um Greenaway selbst handelt – was die Sache
noch delikater macht!) zu einem Kurzfilmprojekt über vertikale
Gegenstände in einem ganz bestimmten Landschaftsabschnitt Südenglands
dienen einem „Remake“ des selbst verschollenen Films. Bereits nach dem
ersten Remake-Versuch ergeben sich jedoch neue Fakten und es zeigt
sich, dass Lupers Projekt wesentlich komplexer angelegt gewesen sein
muss, als es der rekonstruierte Film vorführt. So kommt es zu weiteren
Remakes (insgesamt vier), die versuchen, aus den vorgefundenen
Informationen ein Kunstwerk zu rekonstruieren.
Interessant bei „Vertical Feature Remake“ ist nun folgendes: Die Idee
der die Filmraumstrukturen aufbrechenden „Vertikalen“ (die sowohl einen
Kontrast zum Horizont als auch erst eine Etablierung des
zweidimensionalen Filmraus durch Zentralperspektivierung ermöglichen)
war ein Projekt Greenaways selbst, der damit vor allem die
strukturalistischen Strömungen der Kunstfilmszene der späten 70er und
frühen 80er karikieren sollte. Greenaway geht jedoch gewitzter vor als
einfach eine simple Aneinanderreihung vertikaler Gegenstände
vorzuführen. Ähnlich wie später Umberto Eco in „Der Name der Rose“
bettet er sein Kunstwerk in eine Rahmenhandlung ein, die ihn als Autor
vollständig verschwinden lässt. „Vertical Feature Remake“ erscheint als
Mockumentary über den Künstler „Tulse Luper“, dessen Werk schrittweise
rekonstruiert, immer wieder durch Kommentare gesäumt und durch neue
Fakten angereichert wird. Schließlich kommt es sogar zur Hinterfragung
der biografischen Authentizität „Tulse Lupers“, dessen Identität und
Werk durch „neue Quellen“ nach und nach mehr in Frage gestellt wird.
Übrig bleibt ein überaus abstrakter, in seiner Idee der
Vertikale-Horizontale-Kontrastierung kaum noch zu erkennender
Experimentalfilm, der nun zwar alle bekannten Fakten enthält, dadurch
aber gleichzeitig zur Beliebigkeit verurteilt ist.
Ästhetisch wird die erzählerische Verwirrung vor allem durch den
Gebrauch des Tons unterstützt. Nicht nur kommentiert hier wieder der in
seiner Intonation überaus ironisch klingende Colin Cantlie, auch durch
den von Brian Eno
komponierte Score (sein Filmmusik-Debut!), der sich aus dem
rekonstruierten Kunstfilm in den Kommentar zum Kunstfilm „einmischt“
(Soundbridges) verwischt die Grenzen zwischen Fiktion und
Dokumentation, so dass am Ende nicht nur die Figur des Autoren
vollständig zur Disposition gestellt wird, sondern auch jeder Versuch
der generativen Einordnung des Films „Vertical Feature Remake“
scheitern muss. Meines Erachtens ist „Vertical Feature Remake“ der
intellektuelle Höhepunkt der gesamten Kompilation!



