Ironie, Kontingenz und Serialität

Das verbrecherische Leben des Archibaldo de la Cruz (Ensayo de un crimen, Mexiko 1955, Luis Buñuel) (DVD)

Buñuels Film ist ein früher Vorläufer von „Aro Tolbukhin„. Hier wie
dort geht es um einen „Serienmörder“, der eigentlich gar keiner ist,
der erst durch die Kohärenz stiftende Nacherzählung zum Mörder
„erklärt“ wird – beziehungsweise sich selbst dazu erklärt.

In „Ensayo de un crimen“ ist der „Täter“ Archibaldo vom Gedanken
besessen, zahlreiche Frauen ermordet zu haben. Seine Fallgeschichte –
das offenbart ein Prolog noch vor der Rahmenhandlung im Polizeirevier
– beginnt bereits in seiner Kindheit: Seine Mutter schenkt ihm eine
Spieluhr und seine Gouvernante erzählt ihm, diese Spieluhr sei einmal
das Geschenk einer Fee an einen König gewesen. Mit ihrer Hilfe habe der
König seine verräterische Ehefrau töten können, ohne dass er sie dazu
anrühren musste. Als ihre Schuld feststand, habe er einfach
die Spieluhr in Gang gesetzt und sich gewünscht, seine Frau stürbe … was dann auch geschah.

Der kleine Archibaldo, der ohnehin
Agressionen gegen seine Gouvernante hegt, versucht sofort dasselbe: Er
setzt die Uhr in Gang. Plötzlich ertönen Schüsse auf der Straße (die
Revolutionsgarden liefern sich mit dem Militär eine Straßenschlacht).
Ein Querschläger kommt durchs Fenster und trifft die Frau tötlich.
Fasziniert von seiner neuen Macht und der sexuellen Erregung, die sie
in ihm auslöst (es gibt einen „long hard look“ auf die entbösten Beine
der tot am Boden liegenden Frau), beginnt Archibaldo seine
Mörder-Karriere.

Während seines späteren Lebens begegnen ihm immer wieder Frauen, die er
aus verschiedenen Gründen töten will – sei’s, weil sie ihn beleidigt
oder weil sie ihn betrogen haben. Auch antizipiert er seine
eingebildete pathologische Sexualität so sehr, dass er der Meinung ist,
er müsse Frauen aus reiner Lust töten. Leider wird jeder seiner Morde
durch einen Zufall vereitelt und so bleibt ihm nur, sich schließlich in
Mord-Fantasien zu flüchten. Der Zufall will es, dass die von ihm imaginierten Tode
dann aber wirklich eintreten: Die Frauen sterben bei einem Unfall,
einem Eifersuchtsmord und bei anderen zufälligen Gelegenheiten.
Archibaldo indes hält sich für den Täter.

Der Clou der Erzählung ist, dass Archibaldos Geschichte in Rückblenden
präsentitert wird, die uns vorgeführt werden, während der verzweifelte
Täter sich selbst bei der Polizei anzeigt. Die völlig kontingenten
Ereignisse erhalten auf diese Weise doppelt Kohärenz: In seiner
Einbildung (bzw. Nacherzählung) und durch den logisch-progressiven
Fortgang der Filmhandlung. Serienmord in „Ensayo de un crimen“ ist eine
filmisch inszenierte Fiktion, die nur auf der Basis (film-)ästhetischer
Kohäsionsstrategien rational nachvollziehbar wird. Archibaldo wird
schließlich aber nicht als derjenige erkannt, der er meint zu sein: Das Leben
ist eben kein Film, in dem solche Todesfälle als Morde (v)erkannt werden.
Folgerichtig entlässt ihn der Kommissar mit den rhetorischen Frage: „Do
you like mystery stories?“

Über Stefan Höltgen

siehe: http://about.me/hoeltgen
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