Die Seele der Kleinstadt

The Gift (USA 2000, Sam Raimi) (Pro7)

Raimis „The Gift“ bezweichnet einen Wendepunkt in seinem Werk. Fort vom
Independed-Horror, hin zum darstellerdominierten Hollywoodfilm. Diese
Wendung findet sich auch in der Handlung des Films, die eine
erzählerisches Vexierbild darstellt.

Eine alleinstehende Mutter und ihre drei Söhne leben am Rande einer
Kleinstadt. Die Mutter besitzt hellseherische Fähigkeiten und bessert
damit ihre Witwenrente auf. Dabei mischt sie sich immer wieder
„beratend“ in das Leben ihrer Mitmenschen ein, was schließlich dazu
führt, dass ein besonders grober Klotz, dessen Frau zu den Kundinnen
der Wahrsagerin gehört, schließlich wüste Drohungen ausspricht, die
Frau eine Hexe nennt und sie und ihre Kinder körperlich bedroht.
Zeitgleich verschwindet eine andere junge Frau und als die Polizei sich
nicht mehr zu helfen weiß, wird die Wahrsagerin um Hilfe gebeten. Sie
kann auch tatsächlich helfen und gibt den entscheidenden Hinweis zum
Fundort der Leiche – ein Teich auf dem Anwesen des Mannes, der sie
bedroht hat. Der wird schließlich verhaftet und verurteitl – doch die
Wahrsagerin ist sich sicher, dass der Fall noch nicht gelöst ist.

Im Zentrum des Films stehen natürlich das Leben der Frau und ihre
übersinnlichen Fähigkeiten. Dass sie nicht nur einen Segen, sondern oft
genug einen Fluch darstellen, wird hinreichend illustriert: Die
Eingebungen erfolgen oft in Form von Alpträumen und sind selten auf den
ersten Blick „nützlich“. Sind sie doch einmal klar, so kommt es vor,
dass der Beweissagte nicht an sie glaubt und sein Schicksal findet – so
auch der Ehemann der Wahrsagerin, der bei einem Unfall im E-Werk starb,
vor dem ihn seine Frau gewarnt hatte.

Reduziert man den Plot einmal auf die soziale Interaktion der Figuren
und vernachlässigt die übersinnlichen Fähigkeiten, so wird schnell
eines deutlich: Alles, was hier prophezeit wird, hätte sich auch aus
den Beobachtungen der Wahrsagerin erschließen lassen. Konflikte (wie
etwa das Kindesmissbrauchsdrama, dessen Opfer ein Freund der
Wahrsagerin ist) hätten sich an ihren Symptomen erkennen lassen, ja
selbst der Mordfall hätte sich aus den Indizien und den Aussagen der
Figuren ermitteln lassen.

Die dadurch herbeigeführte „Überflüssigkeit“ des Esoterischen soll
dieses aber keinesfalls diffamieren (so, wie man etwa von Horoskopen
behauptet, sie wären ohnehin gültig in all ihrer Vagheit), sondern
verschiebt das fantastische Moment des Films ins Allegorische. 
Als einer der Protagonisten die Wahrsagerin „die Seele der Stadt“
nennt, ist eigentlich klar, dass ihre Funktion vor allem
sozialhygienischer Natur ist. Ihre Arbeit liegt irgendwo zwischen der
einer „Beratungsstelle“ und einer „psychologischen Praxis“; ihre
Fähigkeiten basieren auf genauer Beobachtungsgabe, therapeutischer
Intervention und dem Nimbus der Autoriät, die die Frau bei allen
genießt.

Raimis Film ist – zusammen mit dem zuvor erschienene A simple Plan
–  damit auch narrativ ein Werk des Übergangs vom „nur
symbolischen“ Horror der 1980er und 90er Jahre hin zu allegorisch
ausgearbeiteten Persönlichkeits- und Sozialstudien. In Spiderman ist dieser Übergang meines Erachtens vollzogen: Selten hatte ein Superheldenfilm so wenig „Superheld“.

Über Stefan Höltgen

siehe: http://about.me/hoeltgen
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