Blue Velvet en detail

Blue Velvet (USA 1986)

In meiner Magisterarbeit hatte ich bereits an zentraler Stelle eine
Untersuchung des Films vorgenommen. Hier nun möchte ich darauf
aufbauend einige neue Aspekte anfügen, die sich vor allem auf meine
jüngste Lektüre der Bedeutung des „Details/Symptoms/Indizes“ (Ginzburg) für die Kultur- und Kunsttheorie beziehen.

Ich stelle meine Gedanken nur Stichpunktartig dar:

  1. Die Verschränkung von Kriminalerzählung auf der einen und Filmhistorie auf der anderen Seite, die „Blue Velvet“ darbietet,
    ist der Hauptgrund dafür, dass man diesen Film als „postmodernistische
    Wende“ im Oeuvre Lynchs bezeichnen kann. Obwohl es zunächst kaum
    auffällt, ist auch „Blue Velvet“ ein „Schleifenfilm“ (wie die späteren
    „Twin Peaks – FWWM“, „Lost Highway“ und „Mulholland Drive“): Die 
    manifeste Erzählung des Krimis wird beständig kommentiert durch die
    latente Erzählung über Krimis.  In der einen liefert
    Lynch den Stoff,
    in der anderen eine mögliche Analyse zum Stoff. Am Ende der einen
    Erzählung ist das Verständnis für den Anfang der anderen da – und
    umgekehrt.
  2. Der Gleichlauf beider Erzählungen und deren Souveränität erinnern
    an das Experiment Derridas in „Glas„, in dem dieser einem Text
    Genets einem Text Hegels gegenüber (oder bessern: nebenan) stellt …
    oder eben umgekehrt. Beide Texte stehen auf eigenartige Weise
    zueinander in Beziehung ohne dass der eine den anderen dominiert. In „Blue Velvet“ ist die Schrift (die Bilder)
    beider Texte zwar schwerer zu „lesen“ – aber sie existiert für beide Ebenen in Form
    des Plots (manifeste Erzählung) und in Form der intertextuellen
    Anspielungen an Hitchcock, die schwarze Serie, … (latente Ebene).
  3. Das Detail spielt in „Blue Velvet“ bekommt besondere Bedeutung: Es
    usurpiert den gesamten Film. Lynch inszeniert Details auf zwei
    verschiedene Arten: offensichtlich und versteckt.
    Zu den offensichtlich
    inszenierten Details gehören das Ohr (sowohl Jeffreys als auch das
    gefundene Ohr) oder das Rotkehlchen am Ende des Films. Zu den
    versteckten Details gehören zum Beispiel die geköpfte Tulpe im Prolog
    des Films oder aber auch, dass der letzte Vers aus Bobby Vintons Song
    „Blue Velvet“ erst am Ende des Films – und dann von Isabella Rossellini
    – gesungen wird. Diese Details, so mutet es an, erzählen ihre ganz
    eigene Geschichte – nämlich die ihrer eigenen Bedeutsamkeit. In dem
    Maße, wie Lynch sie inszeniert, evozieren sie Bedeutung im
    (Nach)Vollzug
    der Handlung des Films – in dem Maße wie er sie verbirgt, evozieren Sie
    diese Bedeutung in der Detailanalyse. Lynch legt mit ihnen Spuren aus
    – ob sie falsch oder richtig sind, ist unentscheidbar. Die Details in
    „Blue Velvet“ sperren sich einer veri- oder falsifizierenden Bewertung
    – verhalten sich wie dekonstruktive Elemente zur großen Erzählung des
    Films. (Eine Analyse des Films auf diese Art müsste, um das Detail
    erkennen zu können, eine fotografische Analyse des Einzelbildes sein.
    „Blue Velvet“ entbirgt seine Geheimnisse nur, wenn man ihn nicht als
    Film sieht.)
  4. Die
    augenscheinliche Theorieresistenz des Films begründet sich zum großen
    Teil in der Inszenierung der Psychoanalyse (die in Interpretationen
    trotzdem immer wieder zur Deutung hinzugezogen wird): Jeffrey im
    Schrank – Die Urszene.  Jeffrey findet das Ohr – Kastrationsangst.
    Jeffreys Vaterfiguren (Vater/Frank) – Bindungs- & Verlustangst usw.
    Diese von Lynch comicartig inszenierten Kategorien zur Analyse
    hinzuzuziehen, käme
    einer fast Nacherzählung des Plots gleich. Zwei Möglichkeiten bieten
    sich
    anstelle dessen: Entweder liest man „Blue Velvet“ – wie ich das bei
    verschienenen Filmen Cronenbergs getan habe – als filmische Abhandlung
    über Psychoanalyse. Dann stünde man aber vor dem Problem, dass Lynch
    einzig „vulgärfreudianische Allgemeinplätze“ inszeniert, ohne etwas
    „eigenes“ hinzuzufügen. Oder man fragt
    sich, warum Lynch so allgemein und offensichtlich eine Interpretation
    mitliefert. Hier könnte man selbst wieder die Psychoanalyse bemühen:
    Lynch „panzert“ sich durch die Affirmation der Theorie gegen jeden
    Versuch seinen Film (oder, was öfter passiert, seine Biografie)
    psychoanalytisch zu lesen –
    und ihn dadurch am Ende zu pathologisieren. Jeder Versuch, dies zu tun,
    wird mit der „Offensichtlichkeit“ einer solchen Analyse bestraft. Eine
    Analyse des Films könnte also an der Stelle ansetzen, wo die grelle
    Inszenierung der Analyse im Film aufhört. Das wäre allerdings im Detail
    noch nachzuvollziehen.

Über Stefan Höltgen

siehe: http://about.me/hoeltgen
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