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Die Unheimlichkeit des Details in den Filmen David Lynchs

Die Arbeitsgruppe „Die Unheimlichkeit des Details“ hat sowohl in den Referaten als auch in den Diskussionen den Weg vom Konkreten zum Abstrakten, vom physischen Detail als Motiv im Film zur Theorie des Films verfolgt. Im Zentrum stand dabei die Frage, welche Formen von Unheimlichkeit in den Filmen David Lynchs existieren, an welchen Aspekten der Produktion (als Vorstufe der Inszenierung), der Ästhetik und der Rezeption sich Unheimlichkeit entwickelt.

1. Das Unheimliche als Lücke

1An einem Vergleich vom Drehbuch als erster Manifestation des filmästhetischen Prozesses und dem daraus entstandenen Film lässt sich gerade bei David Lynch ablesen, wie durch Zerstörung narrativer Kohärenzen, De-Motivierung von Charakteren und Verundeutlichung einzelner „Motive“ (hier vor allem gemeint als Gegenstände, die wie Symbole inszeniert werden, deren indexikalischer Charakter jedoch „leer“ bleibt – im Sinne Ecos „Blinde Zeichen“) die enigmatische Wirkung des jeweiligen Films das Resultat eines bewussten Prozesses ist.

Anhand von „Blue Velvet“ offenbart sich dieser Prozess sehr deutlich: Die Motivationen verschiedener Figuren, die im Drehbuch noch recht detailliert ausgearbeitet sind, wird im Film nicht vollständig übernommen. Jeffreys von vornherein zwiespältiger Charakter als Voyeur und als im Umgang mit Frauen nicht gerade selbstlos agierender Mann tritt im Film so nicht zutage. Die im Drehbuch parabelartig ausgearbeiteten Metaphoriken von „Krankheit“ und „Ungeziefer“ (in Jeffreys Familie grassiert ein mysteriöser Virus, der Ursache für den Kollaps des Vaters war und an dem auch die Mutter leidet) werden im Film auf einzelne Momente reduziert und so verundeutlicht. Schließlich wird der Hintergrund der Kriminalerzählung – die Entführung Dons und Donnies sowie die gesamte Problematik um den Drogenhandel – im Drehbuch wesentlich detaillierter erfasst, als sie schließlich im Film ausgeführt wird.

Das Ergebnis dieser Auslassungen mündet nicht nur in die Vermutung, dass Lynch die Drehbücher mehr als Treatments für sein eigenes (nahezu vollständiges) Verständnis der Erzählungen zu dienen scheinen, also weniger Drehbücher im pragmatischen Sinne sind. Die Reduktion verfolgt ganz offensichtlich auch ein Ziel der Ambivalenzsteigerung verbunden mit einer Steigerung der durch die Auslassungen nun „unheimlich bedeutsam“ erscheinenden Motiv- und Narrationsreste. Im Ergebnis (gerade mit der Kenntnis der Drehbücher) erscheint es dem Zuschauer, als „wüssten“ die Filme mehr als er selbst. Im Versuch, sich als rationales Subjekt ernst genommen zu sehen, wirkt diese Erzählstrategie wie ein vorsätzlicher Angriff auf die Ratio des Zuschauers. Er wird durch die Lückenhaftigkeit geradezu zur Interpretation gezwungen, selbst wenn er sich „nur“ die Erzählung kohärent verinnerlichen will.

2. MacGuffins – Die Lücke als Zeichen

2Die durch diese „Sinnentladung“ im Adaptionsprozess vom Drehbuch zum Film „entleerten Zeichen“ sind verschiedentlich als eine Form des „MacGuffins“ (in Anlehnung an eine Erzählstrategie Alfred Hitchcocks) verstanden worden. Bei Hitchcock hatten solche Zeichen einen rein erzählstrategischen Zweck: Mit ihnen wurde die Handlung (des Films/der Darsteller) motiviert. Die mit Uranpulver gefüllten Weinflaschen in „Notorious“ bilden den „Anlass“ für die Filmhandlung. Dass es dabei ganz unwesentlich ist, was wirklich in diesen Weinflaschen ist (dass der Inhalt nur den Charakter einer Bedrohung besitzen muss), zeigt die erste deutschsprachige Fassung des Films, in der die Flaschen mit „Drogen“ gefüllt sind.

Nach Hitchcock sind die „MacGuffins“ allein für die Figuren im Films selbst von Bedeutung, für den Erzähler jedoch nicht. Dass sich der Zuschauer ebenfalls für sie interessiert, nimmt Hitchcock mit einer gewissen Gereiztheit zu Kenntnis: Die Handlung soll es sein, der Fortgang der Geschichte, die Entwicklung der Charaktere, für die sich der Zuschauer zu interessieren hat, nicht die sie motivierenden Objekte.

Lynchs „Motivatoren“ besitzen einen ähnlichen Charakter wie Hitchcocks „MacGuffins“. Sie dienen allerdings nicht mehr nur der Plausibilisierung von Handlungen (das abgeschnittene Ohr in „Blue Velvet“ löst Jeffreys Detektionsprozess aus), sondern richten sich auch an den Zuschauer, weil sie in all ihrer Opazität als extrem bedeutsam inszeniert werden. (Bei Lynch sind diese Zeichen keine „Red Herrings“, also falsche Fährten, denn zu behaupten, sie wiesen in eine „falsche Richtung“ würde implizieren, dass es eine „richtige Richtung“ gäbe, in die der Zuschauer irgendwann gewiesen würde.)

Die Lynch’schen „MacGuffins“ zielen durch ihre Undurchsichtigkeit auf den Interpretationswillen des Zuschauers. Sie scheinen ihn aufzufordern, sich für ihre Bedeutung innerhalb der Erzählung zu interessieren. Ihr unheimlicher Charakter offenbart sich schließlich darin, dass sie den um Erkenntnis ringenden Zuschauer stets auf sich selbst zurückwerfen, seinen Fragen-Vorrat eher vermehren, als ihn zu vermindern. Dieser Eindruck wird noch dadurch verstärkt, dass Lynch etliche Elemente (Lampen, elektrischer Strom, Interieurs, …) werkübergreifend als „MacGuffins“ einsetzt, was ihre Bedeutsamkeit als „Leitmotive“ noch einmal zu unterstreichen scheint. So häuft der Zuschauer ein Scheinwissen um Bedeutungen an, die durch diese Intertextualitäten weiter genährt werden. Dieses Scheinwissen führt jedoch von Film zu Film eine Progression des Un-Sinns und Unheimlichen nach sich.

3. TRäume und Räume

3Etliche der Lynch’schen „MacGuffins“ sind gewöhnliche Einrichtungsgegenstände von Wohnungen und Häusern der Protagonisten. Dass sie einen Raum bevölkern, den die vulgäre Traumdeutung immer schon mit dem auch topologisch verstandenen „Bewusstsein/Unterbewusstsein“ identifiziert hat (eine Traum-Symbolik des Hauses existiert seit den Babyloniern), hat zahlreiche Interpreten dazu veranlasst, die Filme oder einzelne, besonders enigmatische Sequenzen aus ihnen als Träume zu interpretieren. Die Kamera lädt zu einer solchen Lesart offensichtlich ein, wenn sie, kurz bevor diese Sequenzen beginnen, häufig in dunkle „Eingänge“ (in „Blue Velvet“ sogar in ein Ohr, das von Lynch als „Eingang ins Bewusstsein“ bezeichnet wird) fährt.

Diese Gleichsetzung von Film und Traum führt – gerade bei David Lynchs Filmen – zu nicht unproblematischen Konsequenzen: Die Leere der Zeichen, die sich in diesen T/Räumen befinden, wird damit nicht aufgehoben, sondern auf eine Ebene verschoben, in der sie als „uninterpretierbar“ und damit „bedeutungslos“ diffamiert werden. Der Traum und seine Symbole lassen sich nämlich nicht deuten, ohne die Vorgeschichte des Träumenden zu ermitteln. Doch wer ist dieser Träumende und welche Vorgeschichte hat er? Und: Führt eine Interpretation des Films als Traum nicht letztlich zu einer Abwendung vom Ästhetischen und einer Hinwendung zum Medizinisch-Pathologischen?

Es scheint ratsamer, aus der Gleichsetzung von Film und Traum einen Vergleich zu machen. Die Struktur und Beschaffenheit der Räume, die in Lynchs Filmen oft Handlungsorte sind, legen dies nahe. Ihr Charakter ist zumeist organischer Natur: Sie sind mit organischen Farben ausgestrichen (oft ein Rost- oder besser Schorf-Rot), ihre Flächen erscheinen nicht glatt, sondern weisen Strukturen (Wände aus faltigen Vorhängen) und Muster (Fußboden mit sich wiederholenden Zackenlinien) auf, die man als „organisch“ bezeichnen könnte. Man muss also nicht so weit gehen, diese Räume als Bewusstseinsorte zu identifizieren, ihr Charakter scheint eher physischer/somatischer Natur zu sein.

Die körperliche Erscheinung der Räume wird durch ihre mangelhafte Ausleuchtung noch unterstrichen. Nicht selten scheint es so, als verschlucke, ja verdaue ein Raum eine sich in ihm befindliche Figur mittels seiner Schwärze. Körper und Raum verschmelzen geradezu ineinander. Die Analogisierung von Körper und Raum ist ein Effekt, mit dem die Filme oft spielen: Dass der Mystery-Man aus „Lost Highway“ Fred Madison gegenüberstehen und gleichzeitig mit ihm telefonieren kann, ist ein Resultat dieser Verschachtelung und Identifikation von Raum und Körper. Das Telefon verliert in diesem Sinne (in dieser Szene) seine Funktion als „Raumüberbrücker“ – es öffnet nur die vormals undurchsichtige Membran zwischen zwei Räumen, die immer schon einer waren.

So finden sich in Lynchs Filmen nicht selten „Verschachtelungen“ von Räumen in Räumen. Der Zuschauerblick gelangt von einem in den nächsten Raum jeweils durch ein portalartiges Requisit – sei es eine Schachtel („Mulholland Drive“), der Schlund eines Wurms („Eraserhead“), ein Bild von einer Tür („Twin Peaks – Fire walk with me“) oder durch eine mediale Membran („Lost Highway“). Stets ist es aber so, dass der Übergang von einem übergeordneten in einen untergeordneten (in diesem „verschachtelten“) Raum den filmischen Prozess besonders hervorhebt: Fahrten, Zitterbilder, Videoästhetik, Blenden, …

Die Protagonisten scheinen diese Raum-Logik zeitweilig zu antizipieren. Vielleicht ist Freds mehr fragender als verzweifelter Gesichtsausdruck in „Lost Highway“, als er über den zerstückelten Körper seiner Frau gebeugt ist, so zu verstehen: Nachdem der Mystery-Man ihm die prinzipiell infinite Verschachtelbarkeit von Räumen (Körpern) vorgeführt hat, stößt Fred bei Reneé beim Versuch ihre „innerste Motivation“ für den Ehebruch zu verstehen, auf eine „organische Grenze“.

4. Woran erkennt man einen David-Lynch-Film?

4Die Filme Lynchs sind sich also im doppelten Wortsinne „selbstähnlich“. Sie verwesen stets auf ihren eigenen medialen Charakter, stellen aber auch durch die intertextuelle Verwendung der „blinden Zeichen“ eine Ähnlichkeit untereinander her. Diese Ähnlichkeit ist zunächst vor allem in ihrer Aufgebrochenheit erkennbar: Lineare Erzählstrukturen, die den ganzen Film über konstant bleiben, gibt es so gut wie nie (dass in „The Straight Story“ im Titel des Films bereits auf dessen Linearität hingewiesen wird, ist nicht nur eine ironische Brechung der stets bei Lynch vorzufindenden Erwartungsenttäuschung, sondern ebenfalls trügerisch, wenn man die Referenzen des Films auf andere Filme aufdeckt). Ebenso ähneln sich die Filme in der Brechung der Charakterentwicklung. Nie lässt sich am Anfang eines David-Lynch-Films sagen, welcher Protagonist „stabil“ ist, und selten ist die Stabilität eines Protagonisten unzweideutig (etwa Jeffrey als „Held“ aus „Blue Velvet“). Schließlich zeigen alle Filme Lynchs die bereits konstatierte Auflösung von Raumgrenzen – das Parallelisieren von Außen- und Innenräumen.

Der Paradigmenwechsel der Kunstbetrachtung, der mit der „Methode Morelli“ im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts an der grafischen Kunst vollzogen wurde, wiederholt sich schon bald auch im Film. Schien es hier zunächst noch „ungeheuerlich“, einem menschlichen Körper per Einstellungsgröße seine Ganzheit zu rauben und nur einen Körper-Teil darzustellen (der Kameramann Griffith, der diesen „skandalösen“ Auftrag bekam, sprach sogar vom unheimlichen Effekt), so avancierten die Nah-, Groß- und Detailaufnahmen im Film schon bald zu Mitteln der Verdeutlichung. Der Blick wurde vom Ganzen des Bildes nun wie selbstverständlich auf dessen Detail gerichtet, um das Ganze zu erklären. Die dabei in den Blick gerückten Elemente konnte auf diese Weise mit einer Bedeutung versehen werden, die jenseits ihres Arrangements im Gesamtzusammenhang lag.

Solche Inszenierungsverfahren finden sich auch oft bei Lynch. Sie dienen jedoch nicht mehr der Explikation des Details oder seiner Aufgabe im Gesamtbild. Vielmehr weisen die „Indizes“ (eine semiotische Kategorie, die dem Sherlock Holmes’schen „Indiz“, wie es Ginzbourg als Abart der „Methode Morelli“ ausweist, nicht nur vom Wortstamm ähnelt) in den Filmen Lynchs dem Zuschauer einen Weg. Sie bilden eine Art Indizienkette, die vom Gesamtbild über das Detail hin zur Theorie über die Bedeutung führt. Lynch inszeniert seine „blinden Zeichen“, die wie Simulakren nur auf sich und ihre Umgebung hinweisen, als wären sie Symbole mit konventionellem Sinngehalt – was sie nicht sind, denn die symbolhafte Deutung etwa des elektrischen Stroms im Film Lynchs führt zu keiner sinnstrukturierenden Erkenntnis. Lynchs Zeichen pervertieren die semiotische Kategorie zwischen „Icon“ und „Symbol“ – das „Index“, das selbst in seiner Mehrdeutigkeit ein charakteristisches Film-Zeichen ist und sich im Kontext erschließen soll.

Die Frage „Woran erkennt man einen David-Lynch-Film?“ ist also keine Frage, die zwischen Werk (oder gar Autor) und Rezipient steht, sondern eine Frage, die zwischen dem Rezipienten und seiner eigenen Wahrnehmung steht. Das „Erkennen“ bezieht sich auf die scheinbare Aufdeckung der Referenzen und die vergeblichen Versuche der Deutung: Dass ich nichts erkenne, ist das Ergebnis des Erkennens.

5. Ist das Medium die Message?

5Der so auf sich selbst und sein Nicht-Verstehen-Können zurückgeworfene Zuschauer gerät in Versuchung, die Filme David Lynchs nicht mehr als Erzählungen, sondern als Reflexionen des Autors über einen Gegenstand aufzufassen. Vor allem die Eigenschaft der Filme als mediale Konstrukte scheint mit einiger Stichhaltigkeit mitinszeniert zu sein, wie sich in „Lost Highway“ besonders deutlich erkennen lässt. Doch gerade hier werden Medien nicht so eingesetzt, wie das Alltagswissen des Zuschauers sie kennt. Sie dienen entweder als Mittel/Mittler der Bedrohung oder verweisen auf eine sonderbare Form der Dysfunktion.

Die Medien in „Lost Highway“ eröffnen uns und den Protagonisten des Films einen ultrakurzsichtigen Blick (Jerslev), indem sie so nah an das Objekt heranrücken, dass dessen Umgebung aus dem Bild gerät. Sie sezieren das Objekt, indem sie den Rahmen zwischen ihm und seinem Kontext auflösen. Und sie verfahren „invasiv“, verfügen also auch über einen Ultraschallblick, der uns Strukturen nicht nur zeigt, sondern auch durch und unter ihre Oberfläche dringt. Sie eröffnen einen Blick auf die „unheimliche Innenwelt“ der Räume, in die sie eindringen. Sie de- und reterritorialisieren. Damit verfügen sie über ein nicht unerhebliches Gewaltpotenzial, welches sie direkt vor Augen führen. Eine Gewalt über das, was „wahr“ ist (Fred Madisons Differenz zwischen Erinnerung und Video und Mr. Eddies finale TV-Vorführung, die ihm den „Grund“ seiner Hinrichtung erzählt).

6. Zeit und Raum en détail

6Der offen ausgestellte mediale Charakter vieler Lynch-Filme scheint auch eine Verdopplungsfunktion zu erfüllen. Gerade Großaufnahmen und Zeitlupen, also „Dehnungen“ (Walter Benjamin ) von Raum und Zeit, besitzen einen extrem analytischen Charakter. Sie präsentieren eine Welt des unsichtbaren Kleinen sowie des nicht wahrnehmbaren Schnellen (Benjamin: „Optisch-Unbewusstes“). Die durch diese Verfahren dargestellte Auflösung von Raum- und Zeitgrenzen mündet direkt in eine Auflösung des Sinns. Die extreme „Verdeutlichung“ unter Vernachlässigung des Kontextes führt eine „Verundeutlichung“ nach sich.

Lynch schreibt sich mit der überoffensichtlichen Betonung dieser Ästhetiken wiederum in eine Tradition ein, mit der er gleichzeitig bricht. Dienten die Verfahren von Vergrößerung und Verlangsamung stets dem „studium“ eines Bildes, so scheint Lynch in seinen Filmen damit eher auf ein „puctum“ hinzuweisen. Das offen gelegte Optisch-Unbewusste verführt zur Analyse, die Lynchs Filme nicht zulassen. Die Detailliertheit führt vielmehr vor Augen, dass es weder die absolute Wahrheit noch den absoluten Überblick geben kann.

Die „Dehnungen“ dienen vielmehr der affektiven Wirkung: Der Mangel an weiten Einstellungen in „Lost Highway“ (vor allem im ersten Teil) überträgt die Klaustrophobie der Situation direkt auf den Zuschauerkörper – was noch dadurch unterstützt wird, dass die ins Schwarz laufenden Ränder der Leinwand direkt mit der Dunkelheit des Kinosaals verschmelzen. Wohingegen die vor allem in den Liebes- und Sexszenen eingesetzte Slow-Motion-Kamera im selben Film die Emotionalität auch als Grenzerfahrung der Protagonisten übertragen. In „Blue Velvet“ gibt es hingegen „unechte“ Zeitlupen, die nicht durch höhere Aufnahmegeschwindigkeit, sondern durch Vervielfachung derselben Einzelkader entstehen; hier wird durch das Ruckartige, die inhärente Widernatürlichkeit und Emotionslosigkeit der „Liebesszene“ zwischen Jeffrey und Dorothy markiert.

7. Gewalt als Grenzerfahrung

7Ein wichtiges Moment des Affektübertrags bildet bei Lynch die Darstellung von Gewalt. Die Wirkung ist jedoch nicht eindimensional: Selbst krasse Gewaltdarstellungen, wie etwa die Zweikämpfe zu Beginn von „Wild at Heart“ oder zwischen Andy und Pete in „Lost Highway“ führen neben dem Ekel auch immer ein Moment des Grotesken mit sich. Gerade letztere Szene deckt alle drei von Linda Williams aufgeführten „Body Genres“ ab: Während der Pornofilm mit Alice im Hintergrund projiziert wird, findet eine aus der Melodramatik der Beziehung Petes zu Alice hervorgehende, äußerst rasante Schlägerei im Vordergrund statt, an deren groteskem Ende ein Blutbad wie im Horrorfilm steht.

Die Wirkung dieses Genremixes auf den Zuschauer ist äußerst ambivalent und konfrontiert ihn mit der Widersprüchlichkeit seines eigenen Affekthaushaltes. Dass die Szene schließlich sogar in Lächerlichkeit mündet (sicher zunächst ein Lachen, das aus dem Schock der tödlichen Kopfverletzung entsteht, aber spätestens bei der Bemerkung des Polizisten „Der Typ mit dem Tisch im Kopf“ in Sarkasmus umschlägt), dass hier also das „Karnevaleske“ (Bachtin) der Körperzerstörung hervorgehoben wird, unterstreicht die Unheimlichkeit dieser Gewalterfahrung.

Die offensichtliche, physische Gewalt ist bei Lynch stets das Oberflächenphänomen subversiverer Formen von Gewalt psychischer oder struktureller Natur. Der „Wahnsinn“ als Motivator der Gewaltausbrüche überträgt sich, wie im Fall der Beziehung zwischen Frank und Dorothy in „Blue Velvet“ nicht selten von einem Protagonisten auf den anderen. Das Gesetz des Vaters (zum Beispiel das willkürliche Blickverbot, das Frank ausspricht oder die Lektion für zu dichtes Auffahren, die Mr. Eddie erteilt) steht als absurder Codex über allem und bildet oft genug die Demarkationslinie zwischen Licht- und Schattenwelt der Handlungsorte. Der Zuschauer ist versucht, sich in die Regelhaftigkeit dieser Gesetze einzufinden, wird jedoch stets nur mit deren Widersprüchlichkeit konfrontiert (er weiß genauso wenig wie Dorothy, wann Frank „Baby“ und wann er „Daddy“ zu nennen ist).

Eine Entsprechung dieser irrationalen Regelhaftigkeit und der psychotischen Ausbrüche findet sich wiederum im Bild selbst. Die physische Gewalt in den Filmen David Lynchs hat oft genug den Kopf zum Ziel. Natürlich ist der Angriff auf den Kopf zunächst verbunden mit einem Angriff auf Willen und Individualität des Angegriffenen. Doch scheint auch dieses Leitmotiv mit einer Bedeutung versehen, die darüber hinaus geht, und den Angriff der Filme auf den Kopf des Zuschauers symbolisiert. Die „Lücken“, die da mit gewalttätigen Handlungen in die Köpfe der Antagonisten geschlagen werden, entsprechen den Lücken der Handlungen in den Filmen – sie attackieren die Rationalität an sich.


8. Theorieresistenz

8Im Vorangegangenen wurden immer wieder die Ästhetiken der Verundeutlichung, der Verschlüsselung und Unauflösbarkeit vorgeführt. Das hohe Maß an Selbstreflexivität und die beständige Reflexion der „Bedingung der Möglichkeiten“ des Film, führen zu dem Eindruck, dass ein theoretisches Durchdringen, ja bloßes Verstehen allein schon unmöglich wird.

Auch ein Verständnis aus dem Werksganzen, das ja immerhin eine gewisse Progression in Motivik, Charakterisierung und Thematik verrät, scheitert an den Grenzen der nur scheinbaren Intertextualität – eine werkübergreifende Generalästhetik oder ein erzählerisches Gesamtkonzept ist nur deskriptiv erfassbar. Doch das reine „Weidererkennen“ von Strukturen, Motiven und Narrationen ist noch keine Analyse – es ist nur deren Vorbedingung, die an der Stelle abbricht, an der die gesammelten Details zu einer Theorie umgeformt werden sollen, die etwas über das Werk aussagt.

Schließlich erweisen sich etliche Momente in den Filmen David Lynchs schon selbst als „theoretisch“. „Twin Peaks“ scheint uns die Gesetzmäßigkeiten des Serienprinzips zu verdeutlichen. „Lost Highway“ liefert eine Ontologie der Medien. „Wild at Heart“ verdoppelt seine Genrehaftigkeit als Road Movie. Und „Blue Velvet“ scheint zentrale Phänomene der Psychoanalyse abzubilden (ödipales Dreieck, Urszene, …). Doch auch hier gilt dasselbe wie für die Referenzziehung innerhalb des Werkes: Das alleinige Erkennen der Theoriebausteine liefert noch keine Interpretation.

Fast scheint es, als habe Lynch sich mit der so überoffensichtlichen Einbettung theoretischer Konzepte in seinen Filmen gegen allzu vulgäre Deutungsversuche panzern wollen. Etliche Analysen, die beispielsweise die Urszene in „Blue Velvet“ (Jeffrey beobachtet Dorothy und Frank heimlich beim Sex) als solche oder als Standardsituation der Filmrezeption (im Rückgriff auf Mulvey) interpretiert haben, müssen sich mit dem Vorwurf konfrontieren lassen, dass sie eigentlich nur das allzu Offensichtliche nacherzählt haben. Eine konsequente Umsetzung zum Beispiel der Urszenen-Theorie auf die Situation in „Blue Velvet“ birgt einiges unheimliche Potenzial: Wie entwickelt sich die Narration des Films, wenn wir Frank wirklich als den Vater und Dorothy als die Mutter Jeffreys auffassen. Dies würde zu einer noch rätselhafteren und pervertierteren Erzählung führen, als sie der Filme ohnedies schon bietet. Ein Versuch der Rekonstruktion in diese Richtung ist bislang noch nicht unternommen worden.


9. Ein Ausweg

9Slavoj Zizek schlägt in seiner Analyse zu „Lost Highway“ einen Zugang zum Film vor, der die beiden hier schon problematisierten Interpretationsverfahren umgeht, ohne sie ganz zu verneinen. Eine die Erzählung bloß verdoppelnde Interpretation „Lost Highways“ etwa als „Film über Schizophrenie“ (wie auch die Interpretation dieser Filme als „Traum“) lehnt er als „New Age“ in ihrer Totalität ebenso ab, wie das Verständnis des Films als Film über sich selbst und seine Bedingungen (Zizek benennt diesen Zugang als „cold postmodern exercise“).

Anhand der Frauenfiguren in „Lost Highway“ als konsequente Fortführung eines Frauentypus’ wie er in der Tradition des Film noir etabliert wurde, verdeutlich Zizek, wo ein Weg zu finden ist, die Interpretationsebenen miteinander zu versöhnen.

War die so genannte „femme fatale“ im klassischen Film noir zwar ein für den Mann prinzipiell gefährliches Subjekt, wurde sie im Verlauf der Handlung jedoch „domestiziert“. Die Gefahr, die für den Mann von ihr ausging, blieb am Ende stets als „Bild“ dafür zurück, dass die Frau dominant war, im Zuge ihres Scheiterns jedoch ihr Leid genossen hat. Dieses Bild zeigt sich in der von Zizek angenommenen „inhärenten Transgression“ – einer alternativen Lesart der Filmhandlung, die den (männlichen) Zuschauer einen Tabubruch annehmen lassen kann, und den die Filmindustrie immer schon als zweite, das Phantasma stützende Lesart impliziert. Dieselbe Diagnose stellt Zizek bei der femme fatale des Neo noir. Sie ist zwar offen aggressiv – dies jedoch auch nur innerhalb der Grenzen patriarchaler Ordnung.
Eine echte Transgression dieses Frauentypus’ findet in „Lost Highway“ statt. Wurde Reneé für ihre Dominanz noch bestraft, so schafft sie es als Alice, dem männlichen Verlangen zu entkommen und sich stetig zu entziehen. Nach Zizek stellt der zweite Teil des Films – die Pete-Episode – eine phantasmatische Überschreitung der Realität dar. Stand die manifeste Erzählung des Film noir zu seiner latenten Erzählung noch hierarchisch (die zweite lag unterhalb der ersten), so stehen beide Lesarten in „Lost Highway“ nun nebeneinander und verhalten sich widersprüchlich zueinander. Die „inhärente Transgression“ wird so verunmöglicht, weil beide Welten „möglich“ sind. Zizek dekliniert diese Interpretation an weiteren Motiven des Films durch: die ödipalen Dreiecke, die Fragen des Raumes usw.

Der Zugang, den Zizek zu „Lost Highway“ anbietet – und der sich ohne großen Aufwand auch auf andere Filme Lynchs übertragen lässt – leistet mehr als die singulären Versuche einer psychoanalytischen oder postmodernistischen Lesart. Er vereint sie, indem er ihre Struktur als psychoanalytisch ausweist (hier allerdings Lacan und nicht mehr nur Freud folgend) und ihre Oberfläche als selbstreflexiv kennzeichnet. Zizek bringt das Begehren des Zuschauers ins Spiel und stellt ihn als gleichberechtigten Sinnkonstrukteur neben das Artefakt und die Produktion. In „Lost Highway“ wird der Zuschauer mit Fred identifiziert und wie dieser schließlich mit dem Realen konfrontiert.

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Der Zugang über das sichtbare Detail hin zur mitkodierten Theorie ist in der Lage, die Filme Lynchs verständlicher zu machen, ohne sie zu entzaubern oder das interpretierende Subjekt zur Kapitulation zu zwingen. In ihren Facetten offenbaren sich die Filme Lynchs vielfach als Angriffe auf das rationale Subjekt, das Körperliche und die Phantasmen. Sie bieten so Zugriffe auf die Orte jenseits des Bewussten, ohne diese abbilden zu wollen/können. Ihre Ungreifbarkeit hat sich schließlich als ein Weg gezeigt, zu ihnen vorzudringen.

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Michael Mehl, Mirko Martin, Florian Kessler, Anna Jahn. Marie Harder, Thomas Hajduk, Julia Chiabudini, Marie Becher, Jörg Albrech, zusammengefasst von Stefan Höltgen.