Die Kamera als Theorie-Maschine

Eine mögliche Erwiderung auf David-Lynch-Kritiken

0. Ein weiterer Unfall auf dem Lost Highway

Seit dem Erscheinen von David Lynchs neuestem Film Mulholland Drive (USA 2001) herrscht wieder einmal Verwirrung in der Filmpublizistik. Vor das offensichtlich „undurchdringliche“ Mysterium seiner Filme gestellt, sehen sich Rezensenten in allen Medien gezwungen, sich doch irgendwie eine Besprechung abringen zu müssen; oftmals um die populäre Zugkraft des amerikanischen enfant terrible für die eigenen Zwecke mitnutzen zu können – nahezu immer jedoch mit einem mehr oder weniger offensichtlichen Problem konfrontiert: Was soll und kann man über Filme schreiben, die sich augenscheinlich jedem rationalen (und damit auch beschreibbaren) Zugriff zu entziehen scheinen?

Als vermeintlichen Ausweg, gehen die Rezensenten daraufhin größtenteils dem klassischen Lynch’schen Intentionalismus auf den Leim: Sobald man dem amerikanischen Regisseur nämlich bislang über die Bedeutung seiner Filme auszufragen versuchte, wurde man mit Antworten wie Lynch habe den Film „gespürt, nicht gedacht.“ (Lynch über Eraserhead, Rodley, 89) konfrontiert. Die Gläubigkeit an eine derartige „Bauchlastigkeit“ des Regisseurs führt postwendend zu Statements wie Lynch leide unter der „gelegentlichen Unfähigkeit, Bedeutungen in Worte zu fassen.“ (Rodley, 77) und „Wenn er Ihnen sagen könnte, worum es in seinen Filmen geht, würde es nicht darum gehen.“ (Rodley, 78). Das Lynch’sche Understatement, das zwar das Gute will (Anti-Intentionalismus), doch oft das Schlechte schafft (Anti-Intellektualismus), verursacht auch bei Filmkritikern nicht selten die Haltung, jeden rationalisierenden Analyseversuch von vornherein als „mit Fremdwörtern angereichertes Geschwafel pseudointellektueller Wichtigtuer“ (Stodolka, 62) abzutun.

Um so bekömmernswerter ist es, dass damit nicht nur dem Objektivismus gefährlich das Wort geredet, sondern auch die Grundvoraussetzung jeglicher Kunstauseinandersetzung in Abrede gestellt wird. Nach dieser ist Kunst ja immer eine Verständigung und der Betrachter soll das Gesehene intellektuell ja irgendwie verarbeiten – und das passiert nun mal nicht im Bauch, dem vermeintlichen Hort Lynch’scher Produktion & Emotion, sondern im Kopf!

1. Das Lynch’sche Universum ist instabil

Bei einem Regisseur wie David Lynch war man als Zuschauer (und erst recht als Rezensent) bislang häufig vor ein schwieriges Dilemma gestellt: Da sich seine Filme so weit vom klassischen Kunstbegriff des Werks als „organisch Ganzem“ entfernt haben, dass sich werkimmanent nur noch wenig erklären lässt, wurde entweder der Autor selbst zu Rate gezogen, dieser also gefragt „Was soll das bedeuten?“ und damit in die o. g. „Intentionalismusfalle“ getappt oder man hatte versucht den jeweiligen Film als Einzelbeitrag zu einem umfassenderen Oeuvre zu sehen, welches dann kurzer Hand mit der (biografischen) Entwicklung des Regisseurs engzuführen versucht wurde – Chris Rodleys Interviewband „Lynch über Lynch“ ist ein deutlicher Beleg für solchen „Biografismus“.

Biografismus und Intentionalismus, die aus nachvollziehbaren Gründen als Kunstanalysemethoden in den akademisch-ästhetischen Wissenschaften äußerst umstritten sind, lassen sich modifiziert dennoch auf die Werke Lynchs anwenden. Hierzu müsste allerdings die Persepektive auf den Künstler (nicht auf das Werk) geändert werden, was ich im Folgenden anzureißen versuche.

Gerade in Lynchs hochkomplexen Erzählgeflechten Twin Peaks – Fire walk with me (USA 1992), Lost Highway (USA 1996) und nun Mulholland Drive sublimieren sich fundamentale Probleme des Erzählens guter und origineller Filme. Da in den vergangenen 100 Jahren Filmgeschichte nahezu jede dramatische, kriminelle, erotische, heroische, gewalttätige oder komische Konstellation bis zum Exzess abgelichtet worden ist, bleibt einem anspruchsvollen Erzähler kaum noch Entfaltungsmöglichkeit, den eigenen Stoff bar jeden Klischees einem allwissenden/allahnenden und zu Recht verwöhnten Kinopublikum schmackhaft zu machen. David Lynch hat meines Erachtens diese Not durchschaut und aus ihr eine Tugend gemacht, indem er die Bedingung der Möglichkeit filmischen Erzählens ins Zentrum seiner Werke gerückt hat.

Dieses Verfahren sichert ihm einen immensen Fundus an reflektierenden Möglichkeiten, von denen er auch schon einige erprobt hat: Ein Familiendrama über Familiendramen (Blue Velvet, USA 1984), ein Roadmovie über Roadmovies (Wild at Heart, USA 1990), ein Detektivfilm über Detektivfilme (Twin Peaks – Fire walk with me) und ein Thriller über Thriller (Lost Highway). Ja, ganz im Gegensatz zu etlichen Meinungen fügt sich selbst der „untypische“ The Straight Story (USA 1999) nahtlos in dieses Muster ein: Ein David-Lynch-Film über David-Lynch-Filme – Näheres dazu weiter unten.

Aus einem solchen Blickwinkel offenbaren die Filme Lynchs also einen größeren Zusammenhang innerhalb des Gesamtwerkes, der sich fundamental von vorhergehenden zu unterscheiden vermag: Sie wären dann eben nicht mehr einfach Ausformulierungen eines rein erzählerischen Gesamtkonzeptes zu dem Werk übergreifende Leitmotive (wie z. B. Lichtflackern, faltige Vorhänge oder mysteriöse Männer) gehören. Anders gesagt: Sie reichern nicht allein ein „Universum“ an, dass durch jeden Einzelbeitrag zwar gehaltvoller, nicht aber „stabiler“ wird. Lynchs Filme stellen aus dieser Perspektive nicht mehr und nicht weniger als populär formulierte (im doppelten Wortsinn) „Film-Theorien“ über die Historie, die Narratologie und sogar die Analysewerkzeuge des Films dar. Damit wäre David Lynch nicht länger „nur“ als Filmregisseur anzusehen, sondern auch als ein Filmessayist im Sinne Alexandre Astrucs („Die Kamera als Federhalter“). Und sowohl „Biografismus“ als auch „Intentionalismus“ wären in einem solchen Fall also nicht nur erwünscht, sondern schlichtweg notwendig um die Theorien á la Lynch überhaupt adäquat bewerten zu können. Erst einmal in einen solchen Zusammenhang gebracht, benötigten die Filme rezeptive Verfahren, die nach streng wissenschaftstheoretischer Methodologie falsifizierbar, widerspruchsfrei und intersubjektiv prüfbar sein müssten. Die Methode der Wahl könnte hierfür eine detailanalytische Übersetzung der Bilder in Theoriebausteine sein.

Die akademische Auseinandersetzung mit Lynchs Werk hat sich bislang als Werk übergreifende Methode allein auf die intertextuellen Verflechtungen konzentriert und die Beobachtungen in die Behauptung einfließen lassen, Lynch agiere „einfach nur“ postmodern, wenn er die Filmgeschichte und sich selbst zitiert und der zelluloiden Lumière-Galaxis ein paar neue Icons hinzufügt. Das ließe sich für Blue Velvet noch relativ widerspruchsfrei behaupten, wurde bei Twin Peaks – Fire walk with me schon schwieriger und war bei Lost Highway schließlich vollends unangemessen.

Die hochgradig brüchigen Erzählungen der Filme selbst waren es, die Zweifel aufwarfen. Brüche, die sich in Blue Velvet in einigen Detailfragen manifestieren: Warum hat Dorothys Wohnhaus sieben Etagen, von denen nur fünf zu sehen sind? Was hat es mit dem ominösen Drogenring auf sich, dem Frank und Don angehören? Warum ist das Rotkehlchen – das behauptete „Symbol“ für die Liebe – am Schluss des Films ausgestopft? (usw.)

Bei Twin Peaks – Fire walk with me sublimierten sich die Zweifel vor allem an der erzählerisch völlig verworrenen Sequenz im Hauptquartier des FBI („Wir reden hier nicht über Judy!“), die den ersten vom zweiten Teil des Films trennt bzw. diese miteinander verbindet und eine hervorragende Reflexion über Filmsemiotik darstellt. Gerade hier wurde die konventionelle Erzählung des Films immer offener, es tauchten immer mehr Zeichen auf, die auf nichts als sich selbst verwiesen.

In Lost Highway kippten die Zeichen und damit der Plot dann bekanntlich vollends um: Protagonisten wechselten ihre Namen und Haarfarben wie ihre Beziehungen zueinander. Die flimmerndsten Zeitgenossen waren gerade die einzig konstanten (Mystery Man). Zugleich drängten sich die Medien mit ihrem Insistieren auf Wahrheit und Authentizität immer mehr in den Vordergrund. Heraus kam ein vielschichtiges möbiusbandiges Werk, über das schon viel, aber längst nicht das letzte Wort gesprochen wurde.

2. Straight ahead im Rückwärtsgang

In der Tat durfte man nach Lost Highway gespannt sein, was Lynch als nächstes Verwirrstück parat hielt. Und etliche Erwartungen wurden diesbezüglich tatsächlich noch weit übertroffen. Sein Film The Straight Story entpuppte sich als vielschichtiger, als er auf den ersten Eindruck zu sein schien. Der Film selbst lenkt jeden Anfangsverdacht ins Leere, wenn am Beginn des Films der dumpfe Knall im Haus hinter dem weißen Lattenzaum nur ein umgefallener Alwin Straight war und keineswegs der Startschuss in einen weiteren Albtraum. Auch Alwins Reise widerstand augenscheinlich jedem Versuch des Unheimlichen in das Heimelige dieser „zutiefst emotionalen“ (Filmplakat) Odyssee einzubrechen: den bedrohlich lautlosen Fahrradfahrern, die an Alwin vorüber zischen, der Frau, die, gefangen in ihrer persönlichen Zeitschleife, jeden Tag ein Reh überfährt oder auch dem brennenden Haus, das sich bei der Kamerafahrt in die Totale als reine Übungskatastrophe entpuppt. Und als der Film schließlich ins Happy End waberte, musste sich doch wirklich jeder gestandene Lynch-Fan fragen, was für eine krumme Geschichte Lynch einem da mit The Straight Story aufzutischen versucht hatte.

Und tatsächlich scheint es ganz so, als passiere Alwin Straight auf seiner Reise den Grundkanon Lynch’scher Albträume, ließ diese jedoch im wahrsten Sinne der Geschichte links (am Straßenrand) liegen. In der verzerrten Langsamkeit eines Wild at Heart-Roadmovies, immer bedacht, zum Bruder zu finden, rechtzeitig zur Versöhnung zu kommen, widerstand die Erzählung, auf den Lost Highway abzubiegen. Dramaturgisch notwendige Stopps wurden angereichert mit moralinsauren Aphorismen über die Familie (korrigierend wohl zum bisher dominierenden Familienbild bei Lynch) oder einer fast wortwörtlich übernommenen Passage aus The Wizard of Oz: Alwins Begegnung mit der schwangeren Ausreißerin zitiert Dorothy Gales Treffen mit Professor Marvel – ein Häppchen für die Motivgeschichtler des Lynch-Universums (nur eines von etlichen im Film!).

Im Grunde hatte Lynch mit The Straight Story also nicht nur einen Film präsentiert, der Verwirrung dadurch stiftete, dass er so ganz und gar nicht verwirrte, sondern auch einen Beitrag über die eigene Werkgeschichte nebst Anspielungen auf deren Interpretationsversuche. Analytische Systeme und Filmtheorien wurden ja schon in Blue Velvet mit seiner vermeintlich affirmativen Psychoanalysekritik (vgl. Rodley, 180 & 189) überdeutlich abgehandelt und waren auch spüter mehr und mehr die eigentlichen „Hauptdarsteller“ in Lynchs Filmen: Die Semiotik in Twin Peaks, die Postmoderne in Wild at Heart und schließlich die Narratologie in Lost Highway. Warum also nicht über die Grenzen intradiegetischer Konzepte hinaus gehen und einen Film über das eigene Werk inszenieren?

3. On the Road again

Nachdem Mulholland Drive dann also erschienen war, machte sich neben der obligatorische Verwirrung zusehends Enttäuschung breit: Warum blieb Lynch konzeptionell so offensichtlich hinter Lost Highway zurück und verlor damit die Werk übergreifende Perspektive? Warum ein weiteres Verwirrspiel um Identität und Kontinuität? Allein vom filmischen „Wert“ wollte Mulholland Drive so gar nicht bestechen. Zu vieles blieb – selbst für den bildverschweigenden Lynch – ungezeigt. Ein Haufen Verwirrungen blätterten sich vor dem Betrachter auf; viel zu viele, um als Ansporn zum Miträtseln dienen zu können. Sollte Lynch denn nun wirklich so komplex geworden sein, dass ein Zuschauer ohne Notizblock nicht mehr in der Lage war, seiner Filme Herr zu werden?

Doch auch hier könnte die Hypothese von Lynch als „Film-Theoretiker“ Klarheit in die so ganz andere Art der Verwirrung bringen: Die „gelungene Satire auf das Filmgeschäft“ (Stodolka, 62) könnte ja ebenso die Grundlegung zu einer „Film-Theorie des Produktionsapparates“ sein. Das bleibt zunächst eine Vermutung, die durch eine Hand voll Szenen gestützt werden könnte: Die Playback-Untersuchungen in der Silencio-Sequenz, die überbordend groteske Casting-Situation, der Betty ausgesetzt wird, das Verwirrspiel, dass Schauspieler und Protagonisten zwar derselbe Mensch, nicht aber dieselbe Person sein müssen („This is the girl!“) oder dass ein Backstage-Drama auch durchaus eine reale Vorlage haben kann und umgekehrt. Mittels solch einer Rezeption ließen sich dann auch die beiden Filmhälften (wie schon bei Twin Peaks – Fire walk with me und Lost Highway) synchronisieren: Die eine dient der anderen als Beleg.

Es muss kaum angeführt werden, dass im Sinne methodologischer Reflexion das natürlich weder die einzige noch die letztgültige Interpretation von Mulholland Drive oder gar dem Lynch’schen Gesamtwerk sein kann. Aber es ist ein Ansatz, der mit Sicherheit eine widerspruchsfreiere und intersubjektiv prüfbarere Annäherung anbietet, als alles einfach nur aus „emotionsgeblähten Bäuchen“ abgelassen zu sehen, ohne es sich wenigsten ein einziges Mal durch den Kopf gehen zu lassen.

Abschließend und zusammenfassend könnte ich die (etwas sophistische) Behauptung in die Diskussion werfen, dass man David Lynchs Filme zu verstehen beginnt, wenn man zugibt, dass man sie nicht „versteht“. Denn nur dann öffnet man sich für das (von mir unterstellte) Projekt, in dem die augenscheinlich „theorieresistenten“ (vgl. Celeste, 6) Filme sowohl selbst theoretische als auch theoriereflektierende Texte darstellen, an denen herkömmliche ästhetische Interpretationsversuche bislang abgeperlt sind.

Literatur:

  • Alexandre Astruc. Die Geburt einer neuen Avantgarde: Die Kamera als Federhalter. (1948) In: Christa Blümlinger und Constantin Wulff (Hgg.). Schreiben Bilder Sprechen. Wien: Sonderzahl 1992, S. 199 & 204.
  • Celeste, Reni. Lost Highway: Unvelling Cinema’s Yellow Brick Road. In: http://www.mailbase.ac.uk/lists/film-philosophy/files/paper.celeste.html (Abruf: 10.02.2002)
  • Chris Rodley (Hg.). Lynch über Lynch. Frankfurt am Main: Verlag der Autoren, 1998.
  • Stefan Höltgen. Spiegelbilder. Strategien der ästhetischen Verdopplung in den Filmen von David Lynch. Hamburg: Kovac, 2001.
  • Martha P. Nochimson. The Passion of David Lynch. Austin: Univ. of Texas Press, 1997.
  • Jörg Stodolka. Surreales Realitätspuzzle. Mulholland Drive. In: Splatting Image Nr. 48 (Sept. 2001), S. 61 f.
  • Gottfried Willems & Karlheinz Stierle. Stichworte „Literatur“ & „Literaturwissenschaft“. In: Ricklefs, Ulfert (Hg.). Fischer Lexikon Literatur. Frankfurt am Main: Fischer, 1997.

(Dieser Text ist zuerst 2002 in den mittlerweile untergegangenen Web-Magazinen „Rauschen“ und „Cinefoyer“ erschienen.)

2 Antworten zu Die Kamera als Theorie-Maschine

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