Movies that blow your mind

Thematische Strukturen in den Filmen David Cronenbergs – eine kommentierte Filmografie

„Wenn mich die Leute fragen: ‚Warum drehen sie Horror-Filme?‘, muss ich unmittelbar zu Aristoteles und seiner Theorie der Katharsis zurückgehen, als Rechtfertigung der Tragödie, oder sogar der Komödie. Für mich sind Horror-Filme Filme der Konfrontation, überhaupt nicht solche der Flucht, aber in einem Horror-Film wird man auf eine bestimmte sichere, traumhafte Weise mit Dingen konfrontiert, mit denen man im wirklichen Leben nichts zu tun haben möchte. Aber schließl ich wirst du diesen Dingen gegenüberstehen: Ich spreche vom Alter, von Tod und Einsamkeit.“ (D. C.)

0. Das Wochenende

Mit dem vorliegenden Text möchte ich das an diesem Wochenende stattfindende Seminar über die Filme David Cronenbergs einleiten. Dabei geht es mir im Wesentlichen darum, die Filme, die wir nicht sehen können, kurz zu umreißen und an ihnen spezifische thematische Strukturen in Cronenbergs Arbeiten bekannt zu machen. Die vier ausgewählten Filme „Shivers“, „Videodrome“, „Dead Ringers“ und „Crash“ behandele ich dabei etwas knapper. Die Auswahl dieser Filme fand auf Basis der in ihnen behandelten Themen statt. Bei Cronenberg finden sich zwar bestimmte Sujets, die in fast allen seiner Filme auftauchen, es lassen sich aber auch Themenansätze zeigen, die auf so etwas wie eine „thematische Periode“ hindeuten. Das Empfinden, welcher Film zu welcher Periode gehört, ja ob und wie viele dieser Perioden es überhaupt gibt, ist rein subjektiv. Stellvertretend für diese Perioden wurde je ein Film ausgewählt.

I. Die Symptome

Seit fast 30 Jahren steht der Name David Cronenberg für Filme, die eine fast pathologische Sicht auf Wissenschaft, Gesellschaft und Einzelschicksale bieten. Er hat (wie nur wenige „unabhängige“, amerikanische Filmemacher außer ihm) ein Kino etablieren können, dass aus der Menge an Hollywood-Produktionen an Qualität herausragt und dabei ein ansehnliches Output (14 Langfilme sowie 20 Kurz- und Werbefilme) zustandegebracht. Dass er aus Kanada stammt und es ihm möglich war, die meisten seiner Filme dort zu produzieren, dürfte dafür von wesentlicher Bedeutung sein. So unpopulär seine Themen den großen Verleihern und Produzenten auch anfangs schienen, konnten sie sich doch durchsetzen, und seit sein Film „Die Fliege“ einen Oskar für die Spezialeffekte erhalten hat, ist das Publikum Cronenbergs nicht nur an Genre-Liebhabern stetig gewachsen. Wenn man die Themen seiner Filme näher betrachtet, verwundert das zunächst: Keiner der Filme ist angenehm – ja die meisten wirken eher verstörend und haben immer wieder schärfste Kritik hervorgerufen (vom Vorwurf, seine Filme seien „reaktionär“ bis hin zu unhaltbaren äußerlichen Vergleichen Cronenbergs mit Himmler! ). Aber unter der Oberfläche behandelt er immer wieder Phänomene, mit denen jeder alltäglich konfrontiert ist: Familie, Sucht, Medien, Wissenschaft, Verkehr und immer wieder Sexualität in allen Ausprägungen. Cronenberg realisiert dies auf unterschiedlichste Weisen, jedoch immer eingebettet in Szenarien des Verfalls von Organismus und Seele.

II. Bio-Grafie

Am 15. März 1943 wird David Cronenberg in Toronto geboren. Der Vater ist Journalist und Autor von Krimi- und Comic-Büchern, die Mutter Hausfrau mit großem Interesse an und Wissen über fast jeder Art von Kunst. Seine Kindheit und Jugend verläuft ruhig und sehr geschlossen. Er begeistert sich bereits früh für Literatur (besonders für Autoren, wie Burroughs und Henry Miller) und liest fast ausschließlich Science-Fiction-Literatur. Seine Interessen für Biologie (besonders Entomologie), Naturwissenschaften und Literatur sind bald fixiert und deuten bereits auf die Themen seiner Filme hin. Cronenberg studiert zuerst Biochemie, bricht das Studium jedoch früh ab und widmet sich amerikanischer Literatur. Am College in Toronto gewinnt er Preise für selbst geschriebene Geschichten und dort ist es auch, wo er das erste Mal Kontakt zum Film bekommt. Kommilitonen drehen eine Kurzfilm als Seminarprojekt. Er ist sofort begeistert und erkennt im Filmemachen auch seine künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten. Die Kenntnisse hierfür erwirbt er fast ausschließlich autodidaktisch aus der „Enzeclopaedia Britannica“ und präsentiert 1966 – im Alter von 23 Jahren – seinen ersten 7-minütigen Farb-Kurzfilm „Transfer“.

III. Sex, Vampire und die Kleinfamilie

„Transfer“ handelt von einem Menschen, der die Verbindung zu seinem Psychiater als die bedeutungsvollste Bindung seines Leben ansieht. Der Dialog zwischen beiden findet an einem Tisch auf einem freien, schneebedeckten Feld statt. Das Thema „Arzt-Patient“ taucht später in Filmen wie „Die Brut“ und „Scanners“ wieder auf. Cronenberg dreht in der darauf-folgenden Zeit noch weitere Kurzfilme, die durch ihr ebenfalls surrealistisches Ambiente (z. B. zwei Männer, die eine Unterhaltung über biologische Kriegsführung in der Badewanne führen) seinem ersten Film ähneln. Sein erster Langfilm von 1969 heißt „Stereo“. Er dokumentiert ein fiktives psychologisches Laborexperiment in der Zukunft. Die „Canadian Academy for Erotic Inquiry“ will „herausfinden, ob telepathisch veranlagte Menschen neu e Modelle politischen, sozialen und sexuellen Lebens entwickeln“ . Zu diesem Zweck wird einer Reihe von Menschen durch eine Operation die Fähigkeit zu sprechen genommen. Sie sollen in einem hermetisch abgeschlossenen Versuchsaufbau allein durch Telepathie miteinander kommunizieren. Später isoliert man einige von ihnen, die dann aufgrund des Kommunikationsverlustes sterben. Als Ergebnis des Versuches berichtet dessen Leiter (aus dem Off) über die neuen Entdeckungen, von hoher „erot isch-morphologischer Relevanz“. Telepathische Menschen seien unter den Versuchbedingungen ihrem Wesen nach omnisexuell. „Stereo“ führt thematisch in die Linie der weiteren Spielfilm Cronenbergs ein: Sexualität, Psyche und Visionen vom Zusammenbruch der Mikrostrukturen (hier, wie auch in späteren Filmen durch Organisationen ausgelöst). Auch das Thema der Telepathie taucht später in „The Dead Zone“ und natürlich „Scanners“ wieder auf. 1970 erscheint „Crimes of the future“. Eine durch Kosmetika ausgelöste Krankheit, die nach ihrem Entdecker „Rouges Malady“ benannt ist, vernichtet beinahe die gesamte Menschheit. Zunächst sind alle gebärfähigen Frauen an ihr gestorben, aber auch bei den Männern tauchen nach und nach die Symptome (Absondern einer breiigen Flüssigkeit aus Mund, Nase und Ohren) auf. Dr. Rouge, der kurz vor der Fertigstellung eines Impfstoffes steht, verschwindet eines Tages. Eine Hand voll Männer, die noch nicht infiziert sind, versuchen eine künstlich in die Pubertät versetzte Fünfjährige zu schwängern, aber es findet sich unter ihnen keiner, der zu der Zeugung bereit wäre. Später stellt sich dann heraus, dass genau dieses Mädchen der reinkarnierte Dr. Rouge ist. Die dystopische Vision von der Ausrottung der Menschheit durch von ihr selbst bewusst geschaffene bzw. versehentlich verursachte Krankheiten bestimmt auch die darauffolgenden beiden Filme Cronenbergs. In einem sind es künstlich geschaffene Parasiten , die unkontrolliertes Sexualverhalten auslösen, im anderen Fall eine durch eine Operation mutierte Frau, die mittels eines Stachels unter ihrem Arm eine unheilbare Art der Tollwut überträgt. Die Rede ist im ersten Fall von „Shivers“ (in Deutschland „Parasitenmörder“) und im zweiten Fall von „Rabid“ (in Deutschland „Rabid – Der brüllende Tod“ oder „Überfall der teuflischen Bestien“, womit sich einmal mehr zeigt, worauf es den deutschen Filmverleihern nicht ankommt.) „Shivers“ läuft 1975 an. Mit ihm beginnt David Cronenbergs eigentliche Filmkarriere, weil er auch der erste Film ist, der auch international rezipiert wird. „Shivers“ löst heftige Kontroversen aus, kann aber aufgrund der Eins pielergebnisse vor allem in Frankreich nicht unbeachtet bleiben. Er wird in den nächsten Jahren das „Aushängeschild“ für Cronenberg, sowohl als „rotes Tuch“, bei vielen Mainstream-Produzenten, als auch als Markenzeichen für intelligentes Independent-Kino aus Kanada. Auf den Inhalt gehe ich hier nicht näher ein, da der Film Bestandteil des Seminars ist. Zwei Jahre später kommt dann der schon angesprochene „Rabid“ in die Kinos. Er ist „Shivers“ sehr ähnlich, geht es doch auch hier (zumindest auf der Meta-Ebene) um die zerstörerischen Aspekte der Sexualität. Nach einem Crash mit dem Motorrad wird die schwer verletzte Rose in eine nahegelegene Klinik für plastische Chirurgie transportiert. Weil die Zeit drängt, ist der behandelnde Arzt gezwungen, eine neue Operationstechnik an ihr anzuwenden, bei der Hautgewebe „neutralisiert“ wird. Dieses Gewebe passt sich der transplantierten Stelle genau an, so dass nicht einmal Narben zurückbleiben. Das Verfahren wurde jedoch zuvor nie getestet. Rose erholt sich überraschend schnell vom Unfall und der Operation, stellt jedoch bald fest, dass sie keine Nahrung mehr zu sich nehmen kann. Auch wächst ihr eine Art Stachel in der Achselhöhle, der zuerst in einer Hautfalte verborgen ist. Als sich während einer Visite ein Arzt über sie beugt, fährt sie den Stachel aus und saugt damit dem Arzt das Blut aus. Rose geht es danach fantastisch. Blut ist ihr Nahrungsersatz. Das ganze hat aber noch einen Nebeneffekt. Sie überträgt mit ihrem neuen Organ unwissentlich eine Art Tollwut, an der der Infizierte in kurzer Zeit stirbt, nicht jedoch ohne vorher Amok gelaufen zu sein und andere infiziert zu haben. Die Seuche gelangt schnell aus dem Krankenhaus in die Stadt, wozu die kurz darauf entlassene Rose ihr Scherflein beiträgt. In kurzer Zeit sind tausende infiziert und laufen Amok. Zum Ende des Filmes versucht die Regierung der Seuche Herr zu werden, indem bewaffnete Truppen in die abgeriegelte Stadt einmarschieren und alles abschießen, was sich bewegt. Rose selber weiß bis kurz vor Schluss nicht, dass sie der Auslöser der Katastrophe ist. Als sie es jedoch erfährt, bringt sie sich um, indem sie sich einem der Amokläufer ausliefert, der sie natürlich auch prompt verhackstückt. „Rabid“ ist nicht einfach eine Vampir- oder gar Dracula-Variation. Die Aspekte der Sexualität (hier vor allem der quasi omnisexuell gewordenen Rose, die nun ihren eigenen ein- und ausfahrbaren Penis unterm Arm hat) und des Endzeit-Horrors s ind die bestimmenden Motive. Gerade die Massenhinrichtungen durch die Militärs sind in den Horrorfilmen und Utopien der 70er Jahre sehr populär. 1979 erscheinen gleich zwei Filme Cronenbergs. Der erste heißt „Fast Company“ und wäre kaum erwähnenswert, wenn er nicht thematische Bezüge zum seinem bisher letzten Film „Crash“ vorweg nähme. Bei „Fast Company“ handelt sich um einen Film aus dem Rennfahrer-Millieu. Es soll ein neuartiges Motoröl der Firma „Fastco“ getestet werden, bei dessen Probeläufen immer wieder Leute umkommen. Wie angedeutet führt der Film einen weiteren thematischen Schwerpunkt Cronenbergs ein: Seinen „Auto-Fetischismus“ . Die Vorliebe für Autos und Motorräder – vor allem in Bezug zu ihrem Destruktionspotential – ist in fast allen weiteren Filmen zumindest ansatzweise wiederzuerkennen . So lässt er in „Crash“ eine Protagonisten für sich sagen: „Mein Thema ist die Umformung des menschlichen Körpers durch die moderne Technik.“ Der zweite Film von 1979 ist „Die Brut“. Nördlich von Los Angelos befindet sich das „Somafree Institut“, an dem Dr. Raglan die umstrittene „Psychoplasmatik“ betreibt. Bei dieser Art von Therapie werden die Neurosen der P atienten stabilisiert und organisch Materialisiert. Einem Patienten Raglans, der an durch seinen Vater ausgelösten Minderwertigkeitskomplexen leidet, wachsen im Laufe eines Rollengesprächs Brustwarzen am ganzen Körper. Psychoplasmatik hat aber (wie bei Cronenberg selbstverständlich) auch negative Auswirkungen. Ein weiterer Patient, der nach der Therapie an einem Lymphdrüsenkrebs erkrankt ist, behauptet, sein Körper würde gegen ihn revoltieren. Der Hauptstrang der Handlung von „Die Brut“ handelt jedoch von Nola, die aufgrund ihrer unkontrollierten Hassausbrüche im Somafree-Institut einsitzt. Hingebracht hat sie dort ihr Mann, als er herausfand, dass sie die gemeinsame Tochter miss handelt. Die Psychoplasmatik hat bei ihr zur Auswirkung, dass sie geschlechtslose Kinder in einer Art externer Gebärmutter zur Welt bringt, die zwar nur kurze Zeit leben, aber in dieser Zeit (durch die Aggression der Mutter gesteuert) Morde begehen, von denen ihre biologische Erzeugerin nichts ahnt. Als ihr Mann die Besuche der gemeinsamen Tochter verweigert, weil er glaubt, dass sie selbst in der Psychiatrie von der Mutter misshandelt wird, lässt diese die Tochter durch die „Brut“ entführen. Es kommt zum Showdown, bei dem die Frau, der Psychiater und etliche Familienangehörige ihr Leben lassen. Einzige Überlebende sind Vater und die gerettete Tochter, bei der sich jedoch auch bereits erste organische Veränderungen bemerkbar machen. „Die Brut“ markiert als „Mittelfilm“ das Ende der ersten Periode, bei der das Thema Sexualität in allen unnatürlichen Variationen die große Rolle gespielt hat. Mit diesem Film wird aber auch der zweite Abschnitt in Cron enbergs Arbeit eingeleitet: Die Dramen spielen sich jetzt nicht mehr im Großen sondern im mikrosozialem Bereich ab. Und das für die 2. Periode wichtige Leitmotiv des „neuen Fleisches“, das so erst in „Videodrome“ benannt wird, wird angedeutet im mutagenen Potential der Körper. Es ist die Fähigkeit (oder eben der Fluch) einer neuen Körperlichkeit, den Cronenberg heraufbeschwört und der die Protagonisten zuerst an ihr psychisches und dann an ihr physisches Ende führt.

IV. Das neue Fleisch

Zu den vier Filmen dieser „Periode des neuen Fleisches“ zählen „Scanners“, „Videodrome“ (der zweite Film unseres Seminars), „The Dead Zone“ und schließlich der populärste Cronenberg-Film überhaupt: „Die Fliege“. Mit „The Dead Zone“ als Ausnahme ist dies auch die Zeit des Splatter-Kinos bei Cronenberg. Die Filme sind gekennzeichnet durch einen hohen Blut- und Beuschelanteil und einer Menge bekannter und unbekannter Körpe rflüssigkeiten, die aus allen möglichen und unmöglichen Öffnungen hervorquellen. Etwas zurückhaltend, aber bei weitem nicht mehr so zögerlich wie „Die Brut“ ist in dieser Hinsicht „Scanners“, der 1980 in den Kinos anläuft. Sein Thema ist die Telepathie, die (wie später auch in „The Dead Zone“ und zuvor in „Stereo“) mehr ein Fluch für die Telepaten ist, denn ein Segen. Durch ein Experiment mit Schwangeren, denen die von der Organisation „Consec“ synthetisierte Droge „Ephemerol“ verabreicht wird, gebären diese Kinder, die die Fähigkeit zu „scannen“ haben. Scannen ist nicht einfach Gedankenlesen sondern die Möglichkeit, das eigene Nervensystem mit dem eines anderen Menschen zu verschmelzen und dadurch Kontrolle über dessen Körperfunktionen (z. B. den Herzschlag) aber auch dessen Willen zu bekommen. In Amerika gibt es zwei Gruppen von Scannern. Die einen versuchen unter der Leitung des bösen Daryll Revok das Experiment mit Ephemerol bei den Schwangeren wieder anlaufen zu lassen. Sie wollen auf diese Weise eine Armee von Scannern zu züchten, um a) die Welt kontrollieren zu können und b) die Scanner, die da nicht mitmachen wollen, und die sich der zweiten Gruppe um den Wissenschaftler Dr. Ruth angeschlossen haben, zu vernichten. Dr. Ruth sammelt auf der Straße den völlig heruntergekommenen und desorientierten Scanner Cameron Vale ein. Er weiß, dass dieser ebenso mächtig wie Revok ist und bildet ihn aus. Mittels Ephemerol, dass er ihm injiziert, befreit er ihn von den fremden Gedanken in seinem Kopf, die dieser nicht aus eigener Kraft abschirmen kann. Nach kurzer Zeit – in der etliche der gegen Revok renitenten Scanner von dessen Schergen umgebracht wurden – kommt es zur großen und fatalen Begegnung zwischen Vale und Revok. Zuerst zerstört Vale das Computer-Programm, mit dessen Hilfe das Ephemerol-Experiment an den Schwangeren kontrolliert wurde, indem er sich über die Telefonleitung in den ConSec-Computer einscannt und dort alles restlos vernichtet. Kurz darauf wird er und ein anderer weiblicher Scanner entführt und mit Revok beka nnt gemacht. Der stellt sich als sein Bruder vor und verrät ihm außerdem, dass Ruth, der mittlerweile von Revoks Vertrautem ermordet wurde, beider Vater ist. Revok unterbreitet Vale das Angebot, mit ihm die Scanner-Armee anzuführen. Als di eser ablehnt kommt es zum Scanner-Duell, in dessen Verlauf Revok unterliegt: Vale zerstört seinen eigenen Körper und überträgt seine Persönlichkeit in den Revoks, der damit als Individuum zu existieren aufhört. Ende. In „Scanners“ platzen einige Köpfe und Augen von gescannten Personen mit Hilfe von Chris Walas‘ Special-Effects. Walas streicht später bei der „Fliege“ den Oscar für seine Effekte ein. Das „neue Fleisch“ in „Scanners“ tritt erst am Ende des Filmes zu Tage: Die Verschmelzung der beiden Brüder in einem Körper und damit der Kernfamilie in einer Person. Somit ist eines seiner Charakteristika geklärt: Das Konzept „Neues Fleisch“ bei nhaltet Mutationen, die den Menschen auf eine evolutionär höhere Stufe versetzen. Dies geschieht jedoch zum Preis der Unangepasstheit gegenüber der Umwelt, was in sich in „Scanners“ dadurch zeigt, dass die Vale ohne Ephemerol kaum in der Lage ist, eine Persönlichkeit zu entwickeln, so sehr wird er durch die Stimmen der ihn umgebenden Menschen im Denken beeinträchtigt. „Scanners“ ist wie kein zweiter Film Cronenbergs auf der manifesten Ebene vollständig asexuell. Für die Handlung ist das auch irrelevant, benötigen die Scanner doch gar keinen körperlichen Kontakt mehr zu anderen Menschen. Die Asexualität führt bis hin zur Wiederherstellung der pränatalen Omnipotenz, also der Verschmelzung mit dem Erzeuger (im Beispiel Vales und seines Vaters Ruth). Die Sekundärliteratur sieht gerade hierin Anspielungen auf das Frankenstein-Thema: Dort gab es ebenso keine Mutter und nur einen männlichen Erzeuger (im Gegensatz übrigens zu „Die Brut“). Und dort wie hier wird das „kaum noch menschliche“ Monster vom Vater im Stich gelassen. Der zweite Film dieser Periode ist „Videodrome“. Er erscheint 1983 und weil auch dieser Film Seminarbestandteil ist, will ich nur wenige Worte über ihn verlieren. „Videodrome“ ist meines Erachtens Cronenbergs wohl komplexeste Arbeit. Für den Zuschauer sind bei einmaliger Betrachtung die Ebenen und die extrem aufgebrochenen Handlungsstränge kaum überschaubar. Aber gerade darin korrespondiert der Film mit seinem Sujet. „Videodrome“ handelt vom Fernsehen und (im weitesten Sinne) dessen Auswirkungen auf das Bewusstsein. Die Zugänge sind vielfältig: Von der Drei-Instanzen-Lehre Freuds, über die Bild-Theorien Susan Sonntags bis hin zu Cronenbergs ausgefeilter „New-Flesh“-Philosophie reic hen die Interpretationsmöglichkeiten und sind dabei noch längst nicht erschöpft. Der Film war gerade dieser Vielfältigkeit wegen kein besonders großer Publikumsliebling. Den eingefleischten Horror-Fans sagte die Handlung oft nichts und die Cineasten vertrugen den Gore-Anteil nicht. Zudem musste „Videodrome“ in den USA sein Dasein eine Zeit lang zwischen Hard-Core-Pornos fristen, bis Cronenberg zustimmte die Schere anzusetzen, um ihn an einigen Stellen zu „entschärfen“. Mit der Verfilmung von Stephen Kings „The Dead Zone“ im gleichen Jahr, begab sich Cronenberg erstmals auf das Terrain der Literaturverfilmungen (später folgten diesem die Verfilmungen von Burroughs „Naked Lunch“ und Ballards „Crash“). „The Dead Zone“ ist einer von Kings anspruchsvolleren Romanen, was Cronenberg auch bald erkannte, als ihm die Filmgesellschaft Lorimar und dessen Produzent Dino de Laurentiis die Filmrechte anboten. Mit „The Dead Zone“ bekam Cronenberg auch das erste Mal Kontakt zu Hollywood, was meiner Meinung nach den Film auch sichtlich beeinflusst hat. Wie schon angesprochen ist die zweite Periode des Cronenberg-Kinos vor allem durch extreme Horror-Szenen gekennzeichnet. Mit der einz igen Ausnahme: „The Dead Zone“. Die Handlung: John Smith (hervorragend gespielt von Christopher Walken!) verabschiedet sich eines regnerischen Abends von seiner Freundin Sarah, die ihn zwar (mit wohl eindeutigen Absichten) bittet, die Nacht bei ihr zu verbringen, ihn aber dennoch fortfahren lässt, als er ihr die besondere Bedeutung einer solchen Nacht erklärt. Aufgrund der Dunkelheit, des tobenden Gewitters, seiner Kopfschmerzen und eines umgestürzten Lastwagens, der quer auf der Straße liegt, baut John einen Crash. Die nächste Einstellung des Films spielt fünf Jahre später, als er aus dem Koma erwacht. Seine Beine sind fast gelähmt und Sarah mittlerweile mit einem anderen Mann verheiratet. Diese Neuigkeiten bringen John an den Rand der Verzweiflung. Aber sie sind nicht das einzige was ihn beunruhigt: Als er während der Visite eine Krankenschwester berührt, beginnt er zu halluzinieren. Er sieht sich in einem brennenden Zimmer, in dessen Ecke ein kleines Mädchen hockt, das in den Flammen umzukommen droht. Er sagt der Krankenschwester, dass ihr Haus brennt, es aber noch nicht zu spät ist; und tatsächlich: Das Kind kann gerettet werden. John Smith wird durch die Gabe des „zweiten Gesichtes“ populärer als ihm lieb ist. Täglich bekommt er Zuschriften von Menschen aus dem ganzen Land, die etwas suchen und ihn dabei um seine Hilfe bitte. Eines Tages klopft selbst der Sheriff des Ortes an seiner Tür (und öffnet damit eine interessante Nebenhandlung), um ihn bei der Aufklärung von schrecklichen Sexualmorden zu helfen, denen im Ort schon einige Mädchen zum Opfer gefallen sind. John zögert zuerst, unt erstützt ihm dann aber doch. Bei seinen Bemühungen spürt er, wie ihn seine Gabe immer mehr verausgabt und entschließt sich, in eine andere Gegend zu ziehen, wo ihn niemand kennt. Auch dort wendet er einige Male die Gabe an; einmal auf einer öffentlichen Wahlveranstaltung des Senators Greg Stillson: Als er diesen berührt, erfährt er, dass dieser Mann zum Präsidenten gewählt werden wird. Dann sieht John, dass dieser sein Amt dazu missbrauchen wird, einen nuklearen Weltkrieg auszulösen. John ist entsetzt und spielt mit dem Gedanken einzugreifen. Die hypothetische Frage, die er sich dabei stellt ist: „Hätte ich Hitler 1939 getötet, wenn ich gewusst hätte was passiert?“ John beantwortet sich die Frage mit „Ja“ und entschließt sich zu einem Attentat auf Stillson. Auf einer weiteren Wahlveranstaltung lauert er ihm mit einem Gewehr auf. Dieser erkennt die Gefahr jedoch frühzeitig, schnappt sich das Baby seiner Wahlhelferin, die Johns Exfreundin Sarah ist, und hält es sich als Schild vor, was leider von ein em Fotoreporter festgehalten wird. John wird von Stillsons Leibwächtern angeschossen und liegt im Sterben. Als er kurz vor seinem Ende Stillson noch einmal berührt, sieht er, wie sich dieser aufgrund des Fotos, dass in allen Zeitungen veröffentlicht wird, das Leben nimmt. John Smith stirbt und der Film ist zu Ende. Die politische Motivation von „The Dead Zone“ ist nicht zu übersehen. Cronenberg bezieht zwar keine ideologische Stellung, zeigt aber deutlich die Gefahren einer korrupten Politik für die Gesellschaft. Sowohl deren Einfluss auf den mikrosozialen Bereich (am Beispiel der für Wahlparties eingespannten Familie Sarahs) als auch die mögliche globale Gefahr. Dabei gelingt es ihm die Einzelschicksale Johns und Stillsons nachvollziehbar zu gestalten. „The Dead Zone“ strahlt eine Melancholie (ja fast schon Depression) aus, die sich in keinem weiteren Film dieser Periode wiederfindet und die ihn daher zu einem für diese Zeit ungewöhnlich Cronenberg-Film macht. Vor allem Christopher Walkens schauspielerische Leistung trägt hierzu bei und wird meines Erachtens erst wieder durch die Jeremy Irons‘ in „Dead Ringers“ erreicht. Mit „Die Fliege“ erreicht David Cronenberg den Gipfel seiner Popularität. Der Film erscheint 1986 als eine Produktion aus dem Hause Mel Brooks‘, der ja selbst ausschließlich für Komödien bekannt ist, zuvor aber schon einmal einen Abstecher ins Horror-Genre mit der Produktion von David Lynchs „Elefantenmensch“ gewagt hat. „Die Fliege“ ist kein direktes Remake des gleichnamigen Kurt-Neumann-Klassikers von 1958. Es ist weniger der Thrill der Äußerlichkeit des Mensch-Fliege Mischwesens, als die Veränderung der Persönlichkeit, die Cronenberg in den Vordergrund des Filmes rückt. Auf einer Party lernt die Reporterin Veronica Quaife den exzentrischen Wissenschaftler Seth Brundle kennen. Er nimmt sie mit zu sich nach Hause, um ihr seine Erfindung zu zeigen, die „die Welt, wie wir sie kennen verändern wird“. Brundle hat eine Teleportationsmaschine konstruiert, die einen Gegenstand ohne Zeitverlust über eine beliebige räumliche Entfernung transportiert. Der Nachteil ist, dass sich bisher nur tote Materie hat transportieren lassen. Veronica bietet Brundle an, eine Exklusiv-Story über ihn und seine Erfindung zu drehen und ihn während der Arbeit zu begleiten. Nach einiger Zeit und unter Mithilfe Veronicas gelingt es Brundle, auch lebendes Gewebe zu teleportieren. Ein vorangegangener Versuch mit einem Pavian hat diesen ins Jenseits und nicht in die andere Teleportationskammer (kurz: Telepod) transportiert, begleitet von ziemlich magenumwälzenden Ekel: Der Pavian wurde bei der fehlerhaften Teleportation im wahrsten Sinn des Wortes „umgekrempelt“. Nachdem also dieses Problem aus der Welt geschafft ist, entschließt sich Brundle, sich selbst einer Teleportation zu unterziehen. Dies geschieht ohne Wissen Veronicas, mit der er mittlerweile eine Liebesbeziehung begonnen hat. Nach dem Selbstversuch fühlt er sich wie neu geboren. Jedoch hat er nicht bemerkt, dass eine Fliege mit im Telepod war, deren Gene nun langsam mit den seinen verschmelzen. Die Tragödie nimmt ihren Lauf, als Brundle sich äußerlich und innerlich ziemlich rasch in ein unappetitliches Monstrum verwandelt. Der Zuschauer wird nun nach und nach in das ungewöhnliche Leben der Brundle-Fliege eingeführt, sieht, wie sie über die Wände des Appartements kriecht, Nahrung zu sich nimmt, indem sie sie mit einer hervorgewürgten Flüssigkeit vorverdaut und wie sich immer mehr Teile von Seth Brundle ablösen, die er für seine neue Existenz nicht mehr benötigt. Während dieser Zeit verliert er den Verstand und gerät immer häufiger in unkontrollierbare Agressionsausbrüche. Brundle versucht sich zu retten, indem er Veronica, die zudem von ihm schwanger ist, in einen Telepod sperrt, um sich mit ihr zu verschmelzen. Der Versuch schlägt fehl und anstelle Veronicas ist es der Telepod selbst, der sich mit Brundle vereint. Ve ronica tötet den im Sterben liegenden Brundle durch einem Gewehrschuss in den Kopf. In „Die Fliege“ zeigt sich abermals ein Aspekt des „neuen Fleisches“. Wie in „Scanners“ sollen am Ende möglichst alle Familienmitglieder in einen Körper gebracht werden. Was jedoch bei „Scanners“ halbwegs gelang, schlägt in „Die Fliege“ total fehl. Brundle findet sich (ganz ähnlich Gregor Samsas in Kafkas „Die Verwandlung“) als eine von der sozialen Umwelt völlig isolierte Kreatur wieder. Das Drama des „Mad Scientist“, dessen Hybris ihm zum Verhängnis wird, offenbart sich in vollem Umfang. Ganz anders als in den Filmen der 40er und 50er Jahre (zu denen ja auch Neumanns „Fliege“ zählt), siegt hier nicht die Wissenschaft, sondern führt so gar in den Untergang. Der Film wurde, wie bereits erwähnt, bei den Oscar-Verleihungen 1986 mit einem Preis für die Spezialeffekte ausgezeichnet. Für diese zeichnete Chris Walas verantwortlich, der einige Jahre später bei der unsäglichen Fortsetzung „Die Fliege II“ Regie geführt hat. Interessant ist nebenbei, dass David Cronenberg hier zum ersten Mal in einem seiner Filme selbst als Schauspieler in einer kleinen Rolle zu sehen ist. Er spielt einen Gynäkologen. Von diesem Beruf wird der folgende Film Cronenbergs „Dead Ringers“ (dt. „Die Unzertrennlichen“) handeln.

V. Die Spaltung

„Dead Ringers“ ist der erste Film aus Cronenbergs 3. Periode, deren Filme wohl am besten als „Identitäts-Dramen“ bezeichnet werden könnten. Charakteristisch für sie ist, dass es so gut wie keine Gore- und Splatter-Effekte mehr zu sehen gibt. Außerdem sind die Handlungen fast unerträglich tragisch und siedeln sich damit in der Nähe von „The Dead Zone“ an. Die beiden anderen Filme dieser Periode sind „Naked Lunch“ und „M. Butterfly“ . Über den Film „Dead Ringers“ selbst will ich hier keine Worte verlieren, weil er auf dem Seminar-Programm steht. 1991 erscheint „Naked Lunch“ in den Kinos. Für mich stellt er einen der undurchschaubarsten Filme Cronenbergs dar. Ähnlich wie in „Videodrome“ führen Handlungsstränge durch den Film, die sich erst sehr spät als Halluzinationen des Protagonisten erweisen. Diese werden jedoch auch häufig wieder aufgenommen und ausgebaut. Cronenberg hält sich bei „Naked Lunch“ nur wenig an die Vorlage Burroughs‘. Im Film spielen die Drogenerfahrungen William Lees nur eine untergeordnete Rolle (dies fällt kaum auf, wenn man nur den Film, nicht aber das Buch kennt). Cronenberg, der schon als 18-jähriger ein großer Fan Burroughs‘ gewesen ist, konzentriert sich eher auf die Aspekte des Schreibens, die in der Story anklingen, ja, ihr sogar vorausgeht. Er stellt dabei die geheime Symbiose des Schriftstellers mit seinem Werk heraus. Aufgrund der extremen Verworrenheit von „Naked Lunch“ macht es kaum Sinn, hier die Handlung auch nur in den wesentlichen Einzelheiten schildern zu wollen. Allenfalls ein grobes Gerüst soll dargestellt werden: William Lee ist ein Kammerjäger, der von dem Insektenvernichtungsmittel, das er für seine Arbeit benötigt, abhängig ist. Er und seine Frau versetzen sich damit gegenseitig in Rauschzustände. Im Verlauf solch eines Rausches tötet William seine Frau durch einen Kopfschuss und flüchtet in die fiktive „Interzone“. Auf seiner Flucht hat er immer wieder Halluzinationen von einer skurrilen Agenten-Geschichte, in die er als einer der Hauptakteure mitmischt. Er wird von seiner Schreibmaschine, die verblüffende Ähnlichkeit mit einem Käfer aufweist, genau instruiert, Kontakte mit anderen (feindlichen wie freundlichen) Agenten zu knüpfen und darüber Berichte zu schreiben. Sie empfiehlt ihm hierzu eine Tarnung als Homosexueller an zunehmen. Burroughs‘ „Naked Lunch“ wird hier auf die Aspekte Schreiben und Homosexualität reduziert: Das Schreiben. William Lee sagt einmal während des Film: „Schreiben ist zu gefährlich.“ Es ist wie die Droge, die er zu sich nimmt und zerstört zusammen mit ihr seine Mittelklasse-Existenz. Zum Ende des Filmes kann er schon längst nicht mehr zwischen Realität und Halluzination unterscheiden. Dies wird auch auf der Rezeptionsebene (ebenso wie bei „Videodrome“) realisiert, indem der Zuschauer selbst so lange in die Halluzinationen Lees involviert wird, bis auch er nicht mehr entscheiden kann, was an der Handlung real ist und was nicht. Der Film ist wohl im Wesentlichen als eine Huldigung an Cronenbergs Lieblingsautors anzusehen. Es finden sich nur unwesentliche Bezüge zu seinen sonstigen Arbeiten und auch sonst ist „Naked Lunch“ ein eher untypischer Cronenberg-Film. Die Verworrenheit der Handlung, die aus der vollständig subjektiven Sichtweise Lees herrührt, erinnert eher an die Filme David Lynchs („Eraserhead“, „Twin Peaks“, „Lost Highway“). Der letzt Film David Cronenbergs, der hier besprochen werden soll, ist „M. Butterfly“. Er ist wohl der bisher unterschätzteste Film Cronenbergs, und das auch nicht ganz zu Unrecht. Die Handlung transportiert eine so extreme Schwermut, dass es kaum zu ertragen ist. „M. Butterfly“ ist damit Cronenbergs melodramatischste Arbeit. Hinzu kommt, dass der Regisseur sich hier erstmals in Aufnahmetechniken (Außen- und Massenaufnahmen) versucht, die nicht zu seinen Stärken gehören. Schauplatz ist das China der Kulturrevolution. Der Botschaftsangehörige Rene Gallimard (wie in „Dead Ringers“ verkörpert von Jeremy Irons) lernt auf einer Party die schöne und wortgewandte Opernsängerin Song Liling kennen. En tgegen der Gepflogenheiten und ihren Willen trifft er die überzeugte Kommunistin immer wieder und beginnt eine Liebesbeziehung mit ihr. Song lässt nicht zu, dass Gallimard mit ihr schläft, befriedigt ihn auf anderen Wegen aber äußerst zufriedenstellend. Der Zuschauer wird bald gewahr, dass Song eine Spionin ist, die Gallimard bespitzeln soll, um an Staatsgeheimnisse zu kommen. Sie geht dabei soweit, ein fremdes Kind Gallimard gegenüber als ihrer beider Spross anzugeben. Als Gallimard nach Frankreich zurückgerufen wird bricht die Verbindung beider für lange Zeit ab. Erst nach Jahren treffen sie sich wieder und lassen ihre Beziehung erneut aufleben. Nach einer Blende steht Gallimard vor Gericht. Es ist herausgekommen, dass er (wie er behauptet: unwissentlich) Geheimnisverrat an Frankreich begangen hat. Song wurde gefasst und befindet sich im gleichen Gerichtssaal. Was Gallimard jedoch jetzt erst erfährt: Song ist ein Mann! Ihm offenbart sich die ganze Beziehung als genau geplant und nur zum Zweck der Spionage. Niemand glaubt Gallimard, dass er nicht wusste, es mit einem Mann zu tun gehabt zu haben. Gallimard wird wegen Landesverrats zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Nach anfänglichen Zweifeln gesteht er Song im Polizeiwagen, der beide ins Gefängnis überführt, dass er ihn immer noch liebe. Dieser verhält sich jedoch extrem abweisend. Am Ende von „M. Butterfly“ sieht man Gallimard, wie er sich wie ein chinesischer Opernsänger schminkt und den Gefängnisinsassen dabei die Geschichte seiner Liebe zu Song erzählt. Er steigert sich in seine Erzählung und erntet tosenden Applaus für seine Darstellung. Viel zu spät bemerken die Anwesenden, dass Gallimard sich, während er erzählte, mit Galsscherben die Pulsadern geöffnet hatte. „M. Butterfly“ nimmt bezug auf Puccinis Oper „Madame Butterfly“. Diese wird von Song gesungen, als Gallimard zum ersten Mal auf ihn/sie trifft. Und die Geschichte verläuft fast analog. Nur ist es hier kein Amerikaner der sich in e ine Japanerin verliebt, die seinetwegen Selbstmord begeht, sondern ein Franzose, der sich wegen eines Chinesen umbringt. Die Travestie Songs ist für den Zuschauer genauso überraschend, wie für Gallimard und weil der Plot die Liebe Gallimards zu ihr so überzeugend ausbreitet, verwundert es auch nicht, das er sich zu Song selbst dann noch bekennt, als ihm dieser sein wahres Geschlecht und seine Schlechtheit offenbart. Gallimard versucht sich von der platonischen Liebe zu Song zu überzeugen, als er sieht, dass dieser ihn nicht mehr will. Das Thema „Omnisexualität“, dass sich schon in den n allerersten Cronenberg-Filmen findet ist auch hier wieder präsent. Das Agenten-Thema erscheint daneben nur marginal und hilft allerhöchstens der Plausibilität der Story etwas nach.

VI. Ein neuer Anfang

„Crash“ leitet eine neue Epoche in Cronenbergs Filmarbeit ein. Ohne hier näher auf den Film einzugehen, lässt sich sagen, dass dies einerseits an der Rückbesinnung auf alte Themen liegt (wozu ganz deutlich der Begriff des „ne uen Fleisches“ gezählt werden kann), andererseits aber auch auf dem Neugestaltung der individuellen Dramen. Dies bleibt natürlich spekulativ, doch Cronenbergs geplante Projekte „eXistenZ“ und ein Remake von „Crimes of the future“ weisen in diese Richtung. Es wird wieder mehr um futuristische Sets gehen und um den Menschen, eingewoben in eine Welt, die ihn zu vernichten droht. Dabei konzentriert sich Cronenberg vor allem am „Verkehr“ (in jedem Wortsinn!), wie sich in „Crash“ zeigen wird. Was die Zukunft bringt ist bei David Cronenberg immer ungewiss gewesen. Wird er wieder mehr in Richtung Splatter arbeiten (das erscheint nach Komödien wie Peter Jacksons „Brain Dead“ unrealistisch) oder werden es Filme sein, die mehr den Dr amen der dritten Periode ähneln? Sicher ist, dass Cronenberg auch weiterhin kein Kino für Popcorn-Esser machen wird. Dazu hat er schon zu viele Projekte, die nach Main-Stream rochen, abgewiesen. Er wird wohl auch in Zukunft dem kleinen aber harten Kern amerikanischer Autorenfilmer zuzurechnen sein, bei denen man immer mit einer intelligenten filmischen Provokation zu rechnen hat.

VII. Literatur

  1. Oetjen, A. & Wacker, H. Organischer Horror. Die Filme des David Cronenberg. 1. Auflage. Corian-Verlag. Hamburg 1993.
  2. Robnik, D. & Palm, M. Und das Wort ist Fleisch geworden. Texte über Filme von David Cronenberg. PVS Verleger. Wien 1992.
  3. Geschler, T. & Vollmar, E. Dark Stars. 10 Regisseure im Gespräch. Edition Bellville. Verlag Michael Farin. München 1992.

Weitere Literatur zu David Cronenberg kann den rech umfangreichen Literaturverzeichnissen dieser Bände entnommen werden.

© September/Oktober 1997 Stefan Hoeltgen