When the screen screams you’ll scream too

The Tingler (USA 1959, William Castle)

Gestern ist ein Stapel DVDs von Pacific gekommen: Neben einigen Klassikern, die ich recht günstig bekommen konnte (mit teilweise recht zweifelhafter Qualität), war auch die „40th-Anniversary-Edition“ von „The Tingler“ dabei – der Parasiten-Film, der schon recht früh den metaphorischen Charakter dieser Filmmonster klar macht.

Doch vergessen wir einmal für einen Moment die Parasiten. 🙂

„The Tingler“ ist ein hervorragendes Beispiel für filmische mise-en-abyme. Castle hatte in den Vorschauen zu seinem Film angekündigt,
dass „The Tingler“ der erste Film sein würde, in dem das Publikum die Hauptrolle spiele und nicht gelogen. Im Prolog tritt er dann auch selbst vor die Kamera, weist seine Zuschauer darauf hin, dass „bestimmte, sensible Personen körperliche Symptome entwickeln könnten“ und rät, in einem solchen Fall kräftig zu schreien.

Damals wurden einige Sitze in bestimmten Kinos mit Elektroden ausgestattet, die in genau definierten Momenten einen leichten Stromschlag an den Rücken des darauf sitzenden Zuschauers abgaben. Das waren genau jene Momente, in welchen die Filmhandlung selbst in einem Kino spielt, in dem die Leinwand plötzlich dunkel wurde und der dort gezeigte Film abbrach. Eine Stimme aus dem Off warnte das Publikum, dass sich der Tingler im Zuschauerraum befände und riet, kräftig zu schreien, um dem Wesen seine Macht zu nehmen. In dieser Szene elektrifizierte der Kinobetreiber die Sitze und sorrgte so für den vollständigen, durch Somatisierung hervorgerufenen Eindruck der Rahmen-Auflösung, der schon zuvor durch die Deckungsgleichheit der Leinwände vorbereitet wurde.

Die Kino-Situation wird in „The Tingler“ mehrfach sehr geschickt in die Handlung eingewoben. So ist es als witziger Kommentar zu verstehen, dass die Leiterin des Stummfilm-Kinos (Stummfilme waren in der Regel – das ist an dieser Stelle nicht trivial – Schwarzweiß-Filme!) selbst taubstumm ist. Sie wird ein erstes Opfer des Tinglers, denn dieser kann in seiner Macht über den Körper nur durch angsterfülltes Schrieen gestoppt werden. Die arme Frau, die nicht nur unter verschiedenen Zwangsneurosen leidet, sondern auch noch eine Hemaphobikerin ist, wird von ihrem mordlüsternen Mann durch ein wahres Gruselkabinett gejagt: Sie begegnet Monstern in ihrer Wohnung, denen sie als „Stummfilm-Darstellerin“ nur tonlos mit zum Schrei verzerrten Gesicht begegnen kann. Von der Angst überwältigt wird sie schließlich, als sie als „Schwarzweißfilm-Darstellerin“ im Bad auf einen Blut ausstömenden Wasserhahn und eine ganze Wanne voller Blut trifft (die Castle in seinen Schwarzweißfilm in Farbe einkopiert hat). Der Farbfilm-Schock ist einfach zu groß – sie stirbt.

Und Schuld ist nur der Parasit, der Tingler, jenes Wesen, das sich von der menschlichen Angst ernährt, durch sie im Körper wächst, an der Wirbelsäule empor kriecht und schließlich durch Genickbruch tötet. Der Wissenschaftler (Vincent Price) ist dem Tingler auf der Spur, bekommt ihn jedoch nicht zu fassen, da er nur in lebenden Organismen existieren kann – oder in solchen, die vor Angst gestorben sind. Entdeckt hat er den Tingler durch ein alles enthüllendes Bildgebungsverfahren: Die Röntgen-Strahlung.

Er bedroht seine untreue Frau mit einer Waffe und „erschießt“ sie mit Platzpatronen. Sie fällt vor Schreck in Ohnmacht und ihr Mann röntgt sie. Er fertigt eine Bilderserie an, in der er zeigt, wie der Tingler die Wirbelsäule seiner ohnmächtigen Frau hinabsteigt – sozusagen vom Hort der Ratio, den der Tingler besiedelt hatte, hinab in den Schoß  der Triebe, die den Tingler produzieren. Die Richtung dieser Wanderungsbewegung nährt einen Verdacht: Interessanterweise zeigt der Film nur die „Tingler“ in Frauenkörpern, die als wandernde „Affektprodukte“ damit gleichsam der antiken Vorstellung der „hysteria“, der Gebärmutter, die durch den Körper wandert und Hysterie verursacht, entsprechen.

Der superrationale Wissenschaftler und dessen von reinem Paarungstrieb gesteuerte untreue Ehefrau bilden diesbezüglich eine bemerkenswerte Konstellation, die besonders in dem Moment bedeutsam wird, als der Wissenschaftler der toten Taubstummen Frau den Tingler entnimmt. Das Tier versucht sofort den Wissenschaftler anzugreifen und sich an ihm festzusetzen. Das bringt – nach einiger Zeit – selbst die dickste Angstschutzmembran zum Reißen und den Mann zum Schreien … und so lässt das Wesen von ihm ab.

Die Parasiten-Metapher ließe sich hier also zweifach interpretieren: auf
einer medialen und einer psychologischen Ebene. Einerseits ist der Parasit das Mittel (Medium) zwischen Leib und Seele, das aus intellektueller Regung erst somatische Empfindung werden lässt und damit erklärt, warum Bilder „wirken“. Andererseit ist er Platzhalter für die „parasitäre“ weibliche Sexualität (welche von Weininger und Dr. Moebius immerschon als Gefahr gesehen wurde), die nicht nur hysterische Symptome produziert, sondern auch eine Bedrohung für die mit Männlichkeit assoziierte Rationalität darstellt.

Über Stefan Höltgen

siehe: http://about.me/hoeltgen
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