Die Großstädte und das Geistesleben

Georg Simmel: Die Großstädte und das Geistesleben. In: Ders.: Brücke und Tor. Stuttgart: Köhler 1957, S. 227-242.

Auf der Suche nach möglichst frühen Texten, die die
Wahrnehmungsänderung im Industriezeitalter beschreiben, ist mir ein
Soziologie-Seminar eingefallen, an dem ich 1998 teilgenommen habe:
„Georg Simmel“. Da wurde auch o. g. Text von 1903 gelesen.

Es ist schon erstaunlich, wie luzide Simmel bereits Anfag des
Jahrhunderts Tendenzen beschreibt, die selbst das Stadtleben heute noch
beschreiben können; wie detailgenau er schon damals das Leben und die
soziale Gemeinschaft beobachtet hat.

Simmel konstatiert verschiedene Faktoren, die das Zusammenleben in der Stadt beeinflussen, ja, es präformieren:

  • Geld (S. 229 f.)
  • Zeit(messung) (S. 230 ff.)
  • Balsiertheit (S. 232f.)
  • Reserviertheit (S. 233ff.)
  • persönliche Freiheit (S. 235ff.)
  • Arbeitsteilung (S. 238f.)
  • Individualisierung (S. 239f.)
  • Verkümmerung des Individuums in der Kultur (S. 240)

Das für mich zentrale Thema ist die veränderte Zeitwahrnehmung,
bestimmt durch den Rhythmus der Uhr – ja, des Sekundenzeigers. Die
„Beschleunigung“ („Dromologie“, Virilio), die die Großstadt für das
menschliche Dasein bedeutet, koppelt Simmel zu Folge jedes Bewusstsein
an „Pünktlichkeit, Berechenbarkeit, Exaktheit“ (S. 231) und damit an die Geldwirtschaft und unterdrückt nach und nach die „irrationalen, instinktiven, souveränen Wesenszüge und Impulse“
(S. 231). Der veränderte Rhythmus der Wahrnehmung, der daraus folgt,
führt zur „Balsiertheit“ als „folge jener rasch wechselnden und in
ihren Gegensaätzen eng zusammengedrängten Nervenreinze“ (S. 232) – die
in etwa mit Freuds Konzept des „Reizschutzes“ beschrieben wird
(allerdings erst 17 Jahre später in „Jenseits des Lustprinzips“).

Nicht nur Freud, auch Benjamin (der sich dann explizit auf ihn bezieht)
nimmt Simmel vorweg: Aus der blasierten Existenz in der Großstadt
erwächst ein Gefühl der Freiheit, dass dann besonders groß ist, wenn
die räumliche Freiheit besonders klein ist. In der Menge, im Kontakt zu
den anonymen Passanten ist der Einzelne erst in der Lage, seine
viruelle Auseitung (S. 237f.) zu vervollkommnen. Benjamin bezeichnet
diesen Typus des Großstadtmenschen ab 1939 als „Flaneur“.

Mehr:

http://idw-online.de/public/zeige_pm.html?pmid=70801

Über Stefan Höltgen

siehe: http://about.me/hoeltgen
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