Jugend und Rechtsextremismus

Friedrich-Schiller-Universität Jena

Institut für Soziologie

Vorlesung: Einführung in die Jugendsoziologie
Dozent: Prof. Dr. B. Hildenbrandt
Sommersemester 1996

Inhalt:

1. Einleitung in die Thematik, Abgrenzung des Stoffs und
Worterklärungen

2. Demokratisches Bewußtsein und Handeln von
Jugendlichen

3. Analyse und Theorie der Rechtsextremismusforschung
3.1. Übersicht über die
theoretischen Entwürfe

3.2. Empirisch-analytische Untersuchungen bei
Jugendlichen

4. Die Risikogesellschaft

5. Neudefinition der Jugendphase

6. Orientierungsmilieus
6.1. Das traditionsgebundene
nationalistische Orientierungs-„Milieu“

6.2. Das anomische Orientierungs-„Milieu“
6.3. Das neoromantische Orientierungs-„Milieu“
6.4. Das neokonservative „Milieu“

7. Rechtsradikalismus aus sozialpsychologischer Sicht
7.1. Die autoritäre Persönlichkeit
7.2. Dialektik der Aufklärung
7.3. Narzißmustheoretischer Ansatz
7.4. Ein mehrdimensionales Erklärungsmodell

8. Literaturverzeichnis


1. Einleitung

Der Rechtsextremismus bei Jugendlichen hat in den letzten Jahren dramatisch
an Bedeutung zugenommen. Nicht nur die Pogrome rechtsextremistischer
Jugendlicher in Hoyerswerda, Rostock, Mölln, Solingen und vieler anderer
Orts machen die Brisanz deutlich; auch die zunehmende Akzeptanz
rechtsradikaler Ansichten in der Öffentlichkeit und die Politik, die
teilweise auf die Forderungen von Rechts reagiert (Asylkompromiß)
verdeutlichen, daß mit dem Rechtsextremismus ein Phänomen in die
Gesellschaft gerückt ist, das nicht übersehen werden darf.

Aufgrund der Aktualität der Thematik existieren viele Ansätze der
Deutung von Rechtsextremismus und Jugend. Das vorliegende Referat kann nur
einen Teil dieser berücksichtigen und nur einen ungefähren
Überblick über theoretische und analytische Konzepte der
Rechtsextremismusforschung geben. Eine erschöpfende Behandlung des
Themas „Jugend und Rechtsextremismus“ (Heitmeyer, W. Rechtsextremistische
Orientierung bei Jugendlichen“, München 1987) würde den Rahmen
eines jeden Referates sprengen.

Der vorliegende Text berücksichtigt in der Hauptsache Texte von Wilhelm
Heitmeyer, der eine Reihe Publikationen zum Thema „Jugend und
Rechtsextremismus“ veröffentlichte. Speziell die Veröffentlichung
„Rechtsextremistische Orientierung bei Jugendlichen“ hat eine große
Bedeutung für den vorliegenden Text und wird in ihn in vielen Stellen
mit einbezogen. Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf dem Aufsatz „Aspekte einer
Theorie des aktuellen Rechtsradikalismus in Deutschlands“ von Manfred
Clemens.

Worterklärungen:

Rechtsextremismus:
Politische Einstellung, die mit Gewalt die bestehende
freiheitlich-demokratische Grundordnung“ zu beseitigen versucht, um ein
totalitäres System (nach Vorbild des Nationalsozialismus) aufzubauen,
das Werte, wie Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit, Nationalchauvinismus
und Antiemanzipatorische Bestandteile enthält.

Rechtsradikalismus:
Politische Einstellung, die mit demokratischen Mitteln
(genauer: mit den Mitteln der Demokratie) versucht, o. g. Werte in der
Gesellschaft zu installieren.

Deprivation:
im psychologischen Sinne „Bezeichnung für einen Zustand des Mangels
oder der Entbehrung, der eintritt, wenn einem Organismus die Möglichkeit
zur Befriedigung bestimmter Bedürfnisse vorenthalten wird. Soziale
Deprivation: Unterversorgung bestimmter Individuen oder Gruppen einer
Gesellschaft mit lebenswichtigen Gütern oder Dienstleistungen oder Lohn,
so daß diese das Existenzminimum unterschreiten.“ (nach Fuchs-Heinritz,
W. u. a. Lexikon zur Soziologie, 1994)


2. Demokratisches Bewußtsein und Handeln von
Jugendlichen

Zahlreiche empirische Untersuchungen zum politischen Bewußtsein von
Jugendlichen betonen immer wieder die Verankerung demokratischen Denkens. Sie
agieren in Initiativen, wie Friedensbewegungen, Umweltbewegungen,
parteipolitische Jugendorganisationen, Schüler- und Jugendvertretungen.
(Heitmeyer, W. „Rechtsextremistische Orientierung bei Jugendlichen“, S. 17,
München, 1987)

Risse gibt es nur bei den Gewerkschaften: Sie können Jugendliche nicht
als aktiv handelnde Mitglieder gewinnen. Gewerkschaftliche Werte werden zwar
bejaht; die Teilnahme und Mitarbeit in der Gewerkschaft jedoch verneint. Es
wird eher nach Nützlichkeitserwägungen gegangen (Streikrecht, …).
(nach: ebd. S. 17)

„Die Bereitschaft, sich mit dem politischen System zu identifizieren, hat in
den letzten Jahren jedoch nachgelassen.“ (ebd. S. 18) (Bsp.: Parteijugend,
Wahlmüdigkeit…)

  • Das kann einerseits ein Gewinn sein: Unabhängigkeit und
    Handlungsfähigkeit
  • Es kann ein Problem sein: Politik wird als dem Alltag und den
    Lebensplänen entferntes Handeln begriffen.
  • Jugendliche werden für die Qualität und Richtung politischer
    Prozesse zunehmend gleichgültiger.

    Jugendliche versuchen ihre Situation (Orientierungsprobleme, Unsicherheit,
    Alleingelassenheit) zu verändern. Jedoch nicht hauptsächlich mit
    den Leitbildern und Postulaten der RechtsextremistInnen. Es entstehen aber
    Positionen mit Ideologischen Schnittmengen rechtsextremistischen Gedankengutes.

    Zitat (18jähriger Gymnasiast)
    Krieg ist etwas ganz natürliches. Sie dich um: Kampf und Gewalt
    finden jeden Tag statt. Ihr wollt es offensichtlich nicht wahrhaben. Die
    Stärkeren müssen gewinnen; sie setzen sich ja auch tagtäglich
    durch, sonst geht es doch nicht weiter.“ (Heitmeyer, W. „Rechtsextremistische
    Orientierung bei Jugendlichen“, München, 1987, S. 19)

    In der Öffentlichkeit wird oft ein Vorbild für solche Meinungen
    gebildet:

    Zitat (Staatssekretär im Innenministerium):
    (ebd., S. 19) „Frieden und Freiheit sind ja auch im Innern wichtig.
    Aber da in erster Linie für die Normalen, nicht für die Perversen,
    Minderheiten, Terroristen und Randgruppen“ (ebd., S. 19)


    3. Analyse und Theorie
    der Rechtsextremismusforschung

    3.1. Übersicht über die theoretischen
    Entwürfe
    (alle nach ebd., S. 21f)

  • „Monopol-Kapitalismus-These“ (Opitz): Neonazistische
    Gruppen fungieren als Kader für den Fall, daß die
    Kapitalverwertungsprozesse so unter Druck geraten, daß die
    parlamentarisch-demokratische Staatsform nicht mehr erträglich scheint.
  • „Normale Pathologie“ (Scheuch/Klingmann) Schnelle
    ökonomische und technische Umwandlungsprozesse stehen dem
    hinterherhinken des soziokulturellen Wandels gegenüber. Es entsteht
    eine Schere.
  • „Psychopathologie“ (Ginzel): Der verschwiegene
    Antisemitismus spielt hier eine besondere Rolle. Die Religion der Juden
    wird als schwer zugängliche Glaubensbewegung gesehen.
  • „Neuer Sozialisationstyp“ (Paul): Entstehung der rechtsextremistischen Ansichtenberuht auf den Versagenserlebnissen der frühen Kindheit.
  • „Klassische These vom autoritätsgebundenen Charakter“
    (Adorno): Hier wird mit autoritären Erziehungspraktiken der Familie
    argumentiert. Hierzu weiter unten im Text.
  • „Der historisch vergleichende Ansatz“ (Jaschke):
    Rechtsextremistische Einstellungen Jugendlicher entwickeln sich aus den
    autoritären Erziehungspraktiken der Familie.
  • „Psychoanalytische Individualisierungs-These“ (Wagner/Winterhager): Der Verlustidentifizierungsfähiger Vorbilder ist der Wendepunkt zur Entwicklung neofaschistischer Orientierungsmuster.
  • „vielfältige Deprivation“ (Henning): Aus der vielfältigen
    Deprivation folgt neonazistische Militanz. Sie wird im
    Gruppenzusammenschlüssen überwunden. Die Gruppen sind orientiert an
    „politischen Vorbildern“ des historischen Faschis
    mus.

    Folgende Kritikpunkte lassen sich gegenüber diesen Theorien anbringen:

    1. Formen und Folgen des unorganisierten bzw. bereits bestehenden

    und gesellschaftlich akzeptierten Rechtsextremismus geraten – zugunsten des organisierten und politischen Rechtsextremismus – in den Hintergrund.

    2. Es gibt kaum empirische „Überprüfungen“, die die theoretischen Konzepte bestätigen.

    3.2. Empirisch-analytische Untersuchungen bei
    Jugendlichen

    Die Anzahl der Untersuchungen nahm mit dem Anstieg der
    rechtsextremistischen Gesetzesverletzungen zu. Allein zwischen 1976 und
    1984 gab es in der BRD 9 solcher Untersuchungen mit einem breiten
    Spektrum an Schwerpunkten, unterschiedlichen Populationen und
    methodischen Vorgehensweisen. Heute dürften es wohl noch mehr sein.

    Beispiel: Selbstakzeptanz, Autoritarismus und politische Handlungsbereitschaft arbeitsloser Jugendlicher (von 1977) (nach ebd., S. 25f)

    Die Untersuchung umfaßte 289 Jugendliche und beleuchtet die psychosozialen Folgen der Arbeitslosigkeit.

    Arbeitslose Jugendliche unterscheiden sich in politischer
    Orientierung und Aktivitätsbereitschaft von Beschäftigten und
    Auszubildenden. Arbeitslose Jugendliche vertreten tendenziell
    kritischere und radikalere Positionen und zeigen in ihrer verba
    lisierten Handlungsbereitschaft mehr Risikobereitschaft. Arbeitslose
    Jugendliche haben nicht pauschal politisches Desinteresse. In der
    verbalisierten Handlungsbereitschaft zeigen arbeitslose Jugendliche
    eine deutliche Neigung zu unkonventionellen, aktioni
    stischen Formen politischer Aktivität und ein ausgeprägtes Mißtrauen
    gegenüber etablierten politischen Parteien. Die arbeitslosen
    Jugendlichen weisen eher niedrigere Werte bezüglich autoritärer
    Einstellungen auf. Das macht sie für das „Führerprinzip“ in
    rechtsextremistischen Gruppen besonders anfällig. Es entsteht eine
    Tendenz zur hohen Mobilisierbarkeit für politische Aktivitäten, die
    sich von etabliertem politischen Handeln absetzen.

    Das Problem dieser Studie besteht hauptsächlich darin, daß die
    interviewten Jugendlichen vorwiegend aus Jugendzentren stammen, die
    besonders für aktive Jugendliche prädispositioniert sind. Dies dürfte
    das Ergebnis der Studie rela
    tivieren.


    4. Die Risikogesellschaft

    Die klassische Faschismustheorie besagt, daß aus den Widersprüchen
    der kapitalistischen Gesellschaft die politisch motivierte Gewalt
    entsteht, die den historischen Faschismus hervorgebracht und als
    Herrschaftsform durchgesetzt hat. Hierbei wird die Klassengesellschaft als Erkärungsmuster benötigt (nach ebd., S. 63), wobei sich die Frage stellt, ob dieses Konzept heute noch tragfähig ist.

    Eine andere Möglichkeit liefert die Annahme der Existenz einer
    Risikogesellschaft (Beck). Merkmale der Risikogesellschaft sind: Verlust der Klassenidentität

  • überraschende Stabilität der Struktur sozialer Ungleichheit
  • ein Leben, das jenseits der Klassengesellschaft stattfindet,
    weil sich die Lebensbedingungen der Menschen drastisch geändert haben.
  • Niveauverschiebung bei Bildung und Einkommen
  • Wegschmelzen subkultureller Klassenidentitäten
  • Enttraditionalisierung ständisch“ eingefärbter Klassenlagen
    (alle nach: Heitmeyer, W. Rechtsextremistische Orientierung bei
    Jugendlichen“, München 1987, S. 64)

    Das zentrale Kennzeichen: Individualisierung von Lebenslagen und -wegen, hervorgerufen durch:

  • Schaffung sozialstaatlicher Sicherungs- und Steuerungssysteme (Keine Notwendigkeit für die Bildung von Klassensolidarität mehr)
  • soziale und geographische Mobilität (Herauslösung aus der
    Herkunftsfamilie => neue Beziehungsmuster, die sich nicht
    selbständig weitervermitteln und nicht dauerhaft sind)
  • Ausweitung der Konkurrenzbeziehungen (setzen lebenszeitlich
    immer früher ein und dringen immer weiter in soziale Bereiche vor;
    erzwingen individuelle Abschottung und Vereinzelung)
  • urbane Großstadtsiedlungen (ersetzen alte gewachsene
    Wohnquartiere, aber lassen nur lockere Bekanntschafts- und
    Nachbarschaftsbeziehungen zu)
  • Arbeitsmarktdynamik (erweitert die Gruppe der Lohnabhängigen und weitet die Gemeinsamkeiten ihrer Risiken aus)
  • kontinuierliches Sinken der Erwerbsarbeitszeit (Belastungen durch neue unausgefüllte Zeiträume) (alle nach ebd. S. 64f)Diese Prozesse relativieren die sozialmoralischen Milieus. Die
    Einbindung der Menschen in alltags- und lebensweltlich identifizierbare
    Klassenstrukturen verliert an sozialer Bedeutung.

    Das ist der historische „soziale Kontinuitätsbruch“ (ebd., S. 65),

    in dessen Zentrum sich die Auflösung klassenkultureller, lebensweltlicher Gemeinsamkeiten vollzieht.

    Die positive Seite dieses Prozesses: Individualisierung (eigenes Geld, eigene Zeit, eigener Wohnraum, …)

    Die negative Seite: Vereinzelung. Diese begründet sich durch:

  • längere Adoleszenzzeit, welche beinhaltet, daß
    traditionelle Orientierungen und Denkweisen durch universalistische
    Lerninhalte verändert werden. Jugendliche werden mit individuell zu
    bewältigen Selektionsprozessen konfrontiert.
  • der Arbeitsmarkt, der Motor der Individualisierung von
    Lebenslagen wird, weil der Einzelne sich als Akteur eines eigenen,
    nicht mit einer Gruppe zusammengefaßten Lebensweges sehen muß.
  • die Austauschbarkeit, die ausder Ausweitung der
    Konkurrenzbeziehungen folgt. Diese zwingt zur Abgrenzung, um das
    Besondere und Einmalige der eigenen Leistung herauszustellen. (nach
    ebd., S. 65f)

    Die Individualisierungsschübe bewirken (unter den Bedingungen des
    Kollektivschicksals der Vereinzelung), daß naturvermittelte
    Ungleichheiten (Rasse, Hautfarbe, Geschlecht, Alter, …) aufgrund
    ihrer Unentrinnbarkeit, ihrer zeitlichen Konstanz, ihrer
    Widersprüchlichkeit zum Leistungsprinzip und direkten Wahrnehmbarkeit
    und der damit verbundenen Identifikationsmöglichkeiten besondere
    Aktivierungs- und Politisierungschancen erhalten. (nach ebd., S. 67)


    5. Die Neudefinition der Jugendphase

    Die Jugendphase befindet sich in einem grundlegendem Strukturwandel.
    Einerseits bietet die Risikogesellschaft neue Möglichkeitshorizonte. Es
    darf aber andererseits auf keinen Fall übersehen werden, welche
    Sprengkraft die Auflösung kollektiv
    er sozialer Identitäten hat. Baethge sieht dieses Problem als existenzbedrohende Desintegration und das entscheidende ungelöste Problem der bürgerlichen Gesellschaft.“ (nach: Heitmeyer, W. „Rechtsextremistische Orientierung be

    i Jugendlichen“, München 1987, S. 74)

    Jugendliche sollten in einem gesellschaftlich erzeugten
    Kontinuitätsbruch ihre jeweils eigene lebensbiografische Kontinuität
    zwischen Kindheit und Erwachsensein herstellen. Dieses Verständnis von
    Jugend traf schon in der Vergangenheit nur a
    uf eine begrenzte Anzahl Jugendlicher zu und trifft heute immer weniger
    zu. Jugend bekommt zur Zeit eine neue gesellschaftliche Rolle (auf
    ökonomischer, kultureller, sozialer und politischer Weise). Jugendliche
    unterwerfen sich diesem Prozeß te
    ilweise, teilweise entziehen sie sich ihm.

    Weil diese Ausdifferenzierungsprozesse weiter zunehmen und die
    Widersprüche von Jugendlichen (auf dem Weg zur Selbständigkeit) neu
    erfahren werden, ergeben sich wieder neue Widersprüche:

  • Jugendphase wird ausgedehnt, rechtlich jedoch verkürzt.
  • Schule erlangt einen Bedeutungszuwachs, andererseits einen Bedeutungsverlust.
  • Der Ausweitung der Jugendphase steht eine innere Aushöhlung gegenüber, weil der zukunftsbezogene Sinn verloren geht.
  • Mädchen sollten selbständige Akteurinnen werden, haben aber keine Freiräume.
  • Widerspruch zwischen der „Hochschätzung der Familie“ und der tatsächlichen materiellen (Nicht-) Abstützung.
  • Die Ausweitung der Jugendphase wird von der Politik verleugnet, die die Jugend nicht zum Programmpunkt macht.
  • Jugendliche werden normativ auf den Produktionsprozeß
    orientiert. Es wird ihnen aber verwährt auch tatsächlich daran
    teilzunehmen. (alle nach ebd., S. 76)

    Diese Probleme sind besonders Brisant, weil keine eindeutigen
    Lösungen oder Auswege zu erkennen sind, um die Lage zu verändern.
    Zusammengenommen zeichnen sich Desintegrationsprozesse ab, deren
    weitreichende Folgen – und ihre Bearbeitung durch di
    e Individuen – im Hinblick auf ihre Identitätsprozesse zu analysieren
    sind. Besonders wird dies für Jugendliche zentral, weil
    Identitäts-Entwicklung eine Kernaufgabe der Jugendphase ist.


    6. Orientierungsmilieus

    Auf der Suche nach ihrer Identität brauchen die Jugendlichen eine
    Orientierung, die ihnen früher durch die Familie bzw. ihre soziale
    Klasse meistens gewährt wurde. Damals folgten die Jugendlichen einfach
    den Angehörigen ihrer Familie i
    n die entsprechenden Berufssparten, sie wuchsen aber auch in die
    jeweiligen Parteien und Gewerkschaften hinein.

    Heute sind die oben genannten Möglichkeiten kaum noch gegeben,
    die Jugendlichen müssen sich andere Wege suchen. Hier bieten die
    Orientierungs-„Milieus“, das sind sozusagen „Restbestände“ sozialer
    Milieus, mit einer gewissen Homoge
    nität der sozialen Herkunft, eine Art Stütze. Als Beispiel für
    Orientierungs-„Milieus“ kann man Freundes-Cliquen, Vereinsfreunde,
    Parteiangehörige, etc. ansehen. Sie verbinden die einzelnen
    Orientierungsmuster, aber nicht in so starkem Maße wie eigentlich
    erwartet, so daß sie nicht dauerhaft bleiben. Das führt zu Offenheit
    der Jugendlichen gegenüber verschiedener sozialer und politischer
    Entwicklungen; dadurch befinden sie sich aber auch in einem ständigen
    Orientierungsdilemma.

    Hier sollen die Orientierungs-„Milieus“ vorgestellt werden, in
    welchen sich gewisse Problemlagen verbergen können, so daß sich daraus
    unter gewissen Umständen Hinwendungsprozesse zu entweder regressiven
    subkulturellen Gruppierung
    en oder zu rechtsextremistischen Gruppierungen entwickeln könnten. Das
    Wort „könnten“ muß hier noch einmal hervorgehoben werden, denn
    Prognosen sind in dieser Richtung nicht möglich. Es gibt für die
    sogenannte „Wei
    chenstellung“ der Entwicklungsrichtung Jugendlicher derzeit noch keine
    eindeutige Antwort.

    Es werden hier nun vier Orientierungs-„Milieus“ vorgestellt , in denen sich mögliche Problemlagen erkennen lassen:

    6.1. Das traditionsgebundene nationalistische
    Orientierungs-„Milieu“
    (nach: Heitmeyer, W.
    „Rechtsextremistische Orientierung bei Jugendlichen“, München 1987, S. 191)

    Hier geht es um „rechts“ stehende Organisationen für die die
    „Nationale Frage“ die zentrale Orientierungslinie markiert und in denen
    Tradition und Autorität eine große Rolle spielen. Bei diesen
    Organisationen spielt die familiäre Kontinuität noch eine wichtige
    Rolle. Wenn diese auch schon eingeschränkt ist, so folgen die
    Jugendlichen noch ihren Eltern oder anderen Verwandten, z.B. in die
    Wiking-Jugend.

    6.2. Das anomische
    Orientierungs-„Milieu“
    (nach ebd., S. 191)

    Dies betrifft Jugendliche, die weder Selbstbewußtsein noch
    Handlungssicherheiten haben und die deshalb klar strukturierte
    Situationen brauchen, um ihre Orientierung zu bekommen. Jede Abweichung
    in ihrer Routine bringt Probleme, aus diesem Grund such
    en sie die Wiederherstellung und Durchsetzung einer homogenen
    autoritären Ordnung. So zählt wahrscheinlich nicht die ideologische
    Attraktivität als vielmehr die erhoffte Verhaltensgewißheit bei der
    Hinwendung zu rechtsradikalen Gruppe
    n.

    Sehen Sie, wir erwarten uns eine Entwicklung in der Richtung,
    die wir anstreben, im Grunde hauptsächlich von der Jugend. Und wir
    sprechen innerhalb dieser Jugend verständlicherweise die an, die
    besonders wenig zu verlieren haben und die e
    in besonders hohes Maß an Unzufriedenheit mit den gegenwärtigen
    Lebensumständen haben. Ob es sich nun um soziale Benachteiligung oder
    soziale Probleme bei ihnen handelt, oder ob es sich um persönliche
    Probleme handelt – etwa die Frag
    e der Geborgenheit und … der Wunsch …, in einer Gemeinschaft zu
    leben …, das hat natürlich auch Konsequenzen in der Frage, die Sie
    mir gestellt haben. Es kommt als zweites noch hinzu, daß wir
    hauptsächlich, sagen wir, die Arbeiterjugend ansprechen; hauptsächlich
    also junge Menschen ansprechen, die nicht so in der Lage sind, sich zu
    artikulieren und sich so klar zu machen, was sie eigentlich wollen, als
    wie z. B. die linken Gruppen, die mehr die Intellek
    tuellen ansprechen. Bei uns beruht eben sehr viel mehr auf dem
    gefühlsmäßigen Lernen als auf dem rationalen Lernen …“ (Kühnen, Zitat
    nach Henning, ebd., S. 192)

    6.3. Das neoromantische
    Orientierungs-„Milieu“
    (nach ebd., S. 192)

    Hierbei geht es sowohl um Naturorientierung als auch um biologische und
    soziologische Orientierungen. Es wird versucht, gesellschaftliche
    Widersprüche durch die Flucht in Gemeinschaften zu verarbeiten. Die
    „Kameradschaft“ aus dem rechtsextremistischen Milieu kann hierfür recht
    verlockend sein. Gemeinsam ist beiden Richt
    ungen auch die Abneigung gegen Aufklärung , gegen kalte Rationalität
    und ihre Hochschätzung des Gefühls. Die Gefahren in diesem Milieu
    liegen in den möglichen Umwandlungen, wie Klönne warnt: „Der Protest
    gegen die Rüstung kann umgebogen werden in das Ressentiment gegen die
    Rüstungsverfügung der fremden Mächte, der Verdruß am staatlichen
    Reglementieren kann verwandelt werden in die Ablehnung demokratischer
    Gesell
    schaftsgestaltung…“ Klönne meint auch , daß auf dem Umweg über den
    Umweltschutz der Begriff „Heimat“ bei einigen Jugendlichen wieder
    modern geworden sei. Umwelt- und Lebensschutz werden hier in engen
    Zusammenhang gebracht. Ein Beispiel dafür seien manche
    Pfadfindergruppen.

    6.4. das neokonservative „Milieu“ (nach
    ebd., S. 194)

    Gemeinsam mit rechtsextremistischen Milieus ist ihnen z.B. die
    nationalisierende Sichtweise. Ebenfalls wichtige Übereinstimmungen sind
    die Demokratieentlastung einerseits und die Betonung eines starken
    Staates andererseits. Der deutlichste Unterschie
    d liegt laut Heitmeyer in der Einstellung zur Gewalt bei den beiden
    Gruppierungen. Das neokonservative „Milieu“ lehnt nämlich personelle
    Gewalt ab. Ganz sicher gibt es noch andere weitreichende Unterschiede
    zwischen beispielsweise einem Mit
    glied des rechten Flügels der Jungen Union und einem Mitglied der FAP,
    aber die werden in der Literatur nicht erwähnt.

    Es muß noch einmal betont werden, daß es aus den vier oben
    genannten Orientierungs-„Milieus“ Zuläufe zu rechtsextremistischen
    Gruppen geben kann, aber nicht muß! Der Autor problematisiert hier
    vielleicht etwas zu sehr um s
    einen Standpunkt klar zu machen, denn so wirft sich die Frage auf, in
    welcher Umgebung ist es denn für Jugendliche heutzutage dann noch
    ideologisch ungefährlich? Es soll hier nicht behauptet werden, daß alle
    Argumente Heitmeyers aus der Lu
    ft gegriffen seien; die Ansätze sind durchaus einleuchtend, aber ihre
    Ausarbeitung ist hoffentlich übertrieben!


    7. Rechtsradikalismus aus sozialpsychologischer Sicht

    (vier verschiedene Klärungsansätze – nach einem Aufsatz von Manfred Clemenz)

    7.1. Die autoritäre Persönlichkeit (AP)
    (Vgl. Clemenz, M.,
    Aspekte einer Theorie des aktuellen Rechtsradikalismus in Deutschland, Arbeitspapier, Januar 1994 (Januar 1996), S. 8ff.)

    Hauptvertreter
    dieser Theorie: Adorno, Horkheimer

    Drei wichtigsten Variablen
    der autoritären Persönlichkeit:

  • autoritäre Unterwürfigkeit (masochistisch)
  • autoritäre Aggressivität (sadistisch)
  • Machtdenken
  • -> zurückzuführen auf eine mißlungene Über-Ich- (bzw. Gewissens-) Bildung“Die schwierigste Aufgabe des Individuums in seiner frühen
    Entwicklung, Haß in Liebe umzuwandeln, gelingt niemals vollständig. In
    der Psychodynamik des autoritären Charakters wird die frühe
    Aggressivität zum Teil abs
    orbiert und schlägt in Masochismus um, zum Teil bleibt sie als Sadismus
    zurück, der sich ein Ventil sucht in denjenigen, mit denen sich das
    Individuum nicht identifiziert: in der Fremdgruppe also.“ (ebd., S. 9)

    -> die autoritäre Persönlichkeit benötigt ein Über-Ich-Ersatz, ein
    externalisiertes Über-Ich“, eine mächtige Autorität -> das eigene
    Gewissen wurde entmachtet.

  • ein Ersatz wäre zum Beispiel: antisemitischer Moralismus
    –> Haß wird nahezu in automatisierter und zwanghafter Form
    produziert und gesteigert; er ist vollkommen ichfremd und ohne Bezug
    zum empirischen Objekt.
  • pseudo-moralische Argumente ( jüdische Schuld“) für den Haß entlasten das eigene Gewissen.
  • es entsteht ein irrationales Mißverhältnis zwischen „Strafe“
    und „Schuld“ („Schuld“ eines Türken: physische Anwesenheit, eines
    Schwarzen: seine dunkle Hautfarbe)
  • Neid wird provoziert und produziert, da die Widersprüche der
    modernen Gesellschaft das „Verlangen nach Gleichheit und Gerechtigkeit“
    verletzen.
    -> Neid kann beseitigt werden, durch das Ersetzen des eigenen Ich-Ideals durch einen starken Führer, der alle gleich liebt. „Aller Rassenhaß ist Neid.“ (Adorno)

    7.2. Dialektik der Aufklärung (Vgl. Clemenz, M.,
    1994 (1996), S. 11f.)

    Hauptvertreter dieser Theorie: Adorno; Horkheimer (parallel zur autoritären Persönlichkeit entwickelt)

  • Für die Menschen wird durch die Hierarchie der Verbände und durch die nationale Verwaltung über alles entschieden.
  • Ich und Über-Ich werden durch Gremien und Stars ersetzt.Folgen hiervon sind:
  • Totale Identifikation mit den Machtungeheuern des modernen Staates“.
  • Apathie der Massen
  • Liquidation des Einzelnen
    -> Dies ist ein idealer Nährboden für Faschismus

    7.3. Narzißmustheoretischer Ansatz (Vgl.
    ebd., S. 13ff.)

    Hauptvertreter dieser Theorie: Bohleber, Overbeck

    Diese illusionär omnipotent narzißtische Dualunion bildet den
    Kern der Attraktion, die das Phantasma der Nation auf das Individuum
    ausüben kann … Die Idealisierung bedingt anderseits die Abspaltung
    des Bösen und dessen Projek
    tion auf die Feinde .. Diese Art präambivalenter, regressiv
    verschmelzender organischer Gemeinschaft sucht der Nationalist und
    Antisemit.“ (Bohleber, aaO., S. 139) (ebd., S. 13.)

  • psychodynamischer Kern des Nationalismus und Fremdenhaß
  • zurückzuführen auf eine Abwehr des ödipalen Komplexes:
  • Abwehr von Phantasien und Ängsten über Versehrtheit, Beschädigung, Begrenztheit, Trennung und Ausstoßung
  • Konsequenzen für die Persönlichkeitsstruktur:
  • Größenphantasien
  • Verschmelzungswünsche mit einem idealisierten narzißtischen Objekt (Deutschland)
  • ein starker Führer könnte dieses Objekt symbolisieren
  • schwaches Ich
  • labiles Über-Ich
  • narzißtische Aggressivität (da nicht durch Über-Ich gebunden)
    Gründe hierfür sind:
  • zerbrochene Familienbeziehungen
  • soziale Abgrenzung in Familie und Schule
  • Gewalterfahrung in der Familie
  • ein gestörtes Verhältnis in der präverbalen Mutter-Kind-Beziehung7.4. Ein mehrdimensionales
    Erklärungsmodell
    (Vgl. Clemenz, M., 1994 (1996), S. 21ff.)

    Vertreter dieser Theorie: Clemenz

    Rechtsradikalismus ist weder ausschließlich aus
    Persönlichkeitsstrukturen, noch aus sozialen, ökonomischen und
    politischen Strukturen zu erklären. Es wird davon ausgegangen, daß ein
    mehrstufiger Theorietyp notwendig ist:

  • Ängstlichkeit gegenüber Fremden und Faszination durch das Fremde und Neid sind die Grundlage für
    Fremdenfeindlichkeit und Rassismus
  • Auflösung der Klassengesellschaft, Möglichkeit des Auf- und Abstiegs (Fahrstuhlgesellschaft),
    Individualisierung und Isolation führt dazu, daß Selbstreferentialität
    und Partikularismus Merkmale der Persönlichkeitsstruktur werden.
  • wachsende Bedeutung der Familie aber – nachlassende Sozialisationskompetenz
  • Eltern müssen aus materiellen Gründen arbeiten -> keine Zeit -> konsumistische Orientierungsmuster
    der Kinder (Fernseher übernimmt teilweise die Rolle des Erziehers)
  • Vorhandene rechtsgerichtete Gruppierungen schöpfen dieses Potential ausDies sind nach Clemenz die Bedingungen für dasEntstehen manifester rechtsradikaler Bewegungen.

    8. Literaturverzeichnis

    1. Clemenz, Manfred,
    Aspekte einer Theorie des aktuellen Rechtsradikalismus in Deutschland“,
    Arbeitspapier, Januar 1994 (Januar 1996)

    2. Heitmeyer, Wilhelm,
    Rechtsextremistische Orientierung
    bei Jugendlichen – Empirische
    Ergebnisse und Erklärungsmuster einer Untersuchung zur politischen
    Sozialisation“, Juventa Verlag Weinheim und München, 1987, 1. Auflage

    3. Fuchs-Heinritz, Werner (Hrsg.), u. a.,
    „Lexikon zur Soziologie“, 3. völlig neu bearbeitete und erweiterte
    Auflage, Westdeutscher Verlag, Opladen 1994