Dead Man – Nachwehen eines Genres?

1. „I’m not dead!“

Seit Ende der 70er Jahre ist Ruhe auf den Straßen Dodge Citys
eingekehrt. Wo sich bis dahin jährlich bis zu 100 Western aus den
Studios den Weg in die Kinos bahnten, zuckt das Genre, das seine
Höhepunkte zwischen 1930 und 1960 mit Namen wie Howard Hawks und John
Ford feierte, nur noch ein paar wenige Male pro Jahr auf. Produktionen
wie YOUNG GUNS sind dabei eher eine Seltenheit und werden von einer
Menge blutleeren Schundes ý la DER MIT DEM WOLF TANZT oder etwas früher
den Brutalo-Spaghetti-Western mit Franco Nero überdeckt.

Was aus dem „männlichsten aller Filmgenres“ geworden ist, das
ist das Rätsel, dass sich dieser Text zu lösen anschickt. Vorab: Ich
habe hier weder vor, die motivgeschichtliche Monotonie, noch die rar
gewordenen Kino-Idole dafür verantwortlich zu machen. Ebenso muss sich
erst zeigen, ob der Western überhaupt richtig tot ist und falls ja, ob
er einen gerechten Tod gestorben ist oder von hinten erschossen wurde.

Dazu macht es Sinn, eines der jüngsten Werke dieses Genres
zwecks näherer Betrachtung heranzuziehen. Jim Jarmuschs DEAD MAN aus
dem Jahr 1995 scheint mir dafür ein geeignetes Objekt zu sein, weil er
erstens sehr aktuell ist, zweitens die interessante Entwicklung des
Genres zeigt und nicht zuletzt drittens einen ideologischen Wendepunkt
des Revolvermythos verdeutlicht.

2. „Do you know how to use this weapon?“

Durch Filme wie NIGHT ON EARTH, DOWN BY LAW und MYSTERY TRAIN hat
Jarmusch bewiesen, dass er ein Filmautor ist, der mit den Klischees der
bestehenden oder vergangenen Genres umzugehen weiß und diese sogar dazu
nutzen kann, Filme zu drehen, die ihrem jeweiligen Genre entsprechen
und auf eigenartige Weise doch widersprechen.

Die Frage, die ich nun an DEAD MAN stelle, ist so einfach wie
vertrackt: Ist das ein Genrewestern oder ein Autorenfilm? Aus der
Antwort könnte sich ablesen lassen, dass das Genre existiert und
frischen Wind aus der Autorenfilmer-Ecke bekommen hat und was eine
Autoren-Filmer heutzutage überhaupt alles sein kann.

Dazu zunächst ein kleiner Rückblick in die 30er Jahre. Der
kommerzielle Erfolg des Western verhalf einigen Studios zu
beträchtlichen Gewinnen. Das führte u. a. dazu, dass immer mehr Filme
dieser Art produziert wurden. Dabei setzte man auf Bewährtes bei
Handlung und Charakteren und erschuf so das FilmGenre. Die Filmemacher
sollten bei den Produktionen oft soweit in den Hintergrund treten, dass
nicht mehr zu erkennen wäre, „wer“ der Film ist, sondern nur noch „was“
er ist – denn das war nach Meinung der Studio-Bosse für die Gewinne
ausschlaggebend.

Freilich ließ sich der Arbeitsstil der Regisseure trotzdem in
fast jedem dieser Filme wiedererkennen und bis hin zum Spätwestern in
den 60er Jahren war es dann möglich, genau zu erkennen, ob es sich um
einen Hawks-, Zinnemann- oder Ford-Film handelte. Hatte John Ford sich
einstmals noch vorgestellt mit den Worten „My name is John Ford. I’m
making Western.“, so war zum Ende hin sein Name soweit Diskurs für die
für ihn typische Kunstfertigkeit geworden, dass es auch ohne weiteres
„We are Western. We made John Ford.“, hätte heißen können. Und obwohl
sich der Künstler im Genrefilm nun doch so stark emanzipiert hatte,
waren die Filme noch weiterhin beliebt und „Straßenfeger“.

Der Unterschied zu Jarmuschs DEAD MAN liegt nun darin, dass
dieser nicht ein archetypischer Western-Regisseur ist. Er bedient sich
hier der verschiedenen Klischees, nicht jedoch, ohne ihnen (s)eine
typische Note zu geben. Aber beherrscht Jarmusch die Gratwanderung, die
Topoi des Western zu nutzen, ohne ihnen zu erliegen?

3. „He who talks loud saying nothing“?

Wie ist es um eben diese Kriterien „Charaktere und Handlung“ in DEAD
MAN bestellt? Eine genauere Betrachtung des Films soll Aufschluss
darüber geben.

Wir haben zunächst den Helden William Blake (Johnny Depp).
Seine Entwicklung vom arbeitslosen Buchhalter zum Revolverhelden und
Zufallskiller ist beeindruckend und in der Geschichte des Westerns wohl
einmalig. Mit ihm ist sein Freund, der Indianer Nobody (Gary Farmer):
ein intellektueller Verstoßener, der mit seinen kryptischen Reden Blake
gleichermaßen fasziniert wie nervt. Dann gibt es da noch die drei
Killer, die Blake auf den Fersen sind. Auch diese bestechen durch
bisher nicht dagewesene Qualitäten: Johnny „The Kid“ Picket (Eugene
Byrd) ist ein vorpubertärer Killer-Mythos, Conway Twill (Michael
Wincott) ein Plappermaul mit Mutterkomplex und verborgenem Hang zu
Schmusetieren und zuguterletzt Cole Wilson (Lance Henrikson) ein
Menschenfresser, „who fucked his own parents (yes, both of them),
killed åem and ate åem.“

Die Handlung lässt sich knapp wie folgt zusammenfassen: Nachdem
William Blake all sein Geld ausgegeben hat, um an einen Job weit
entfernt seiner Heimatstadt Cleveland zu kommen – jedoch erfolglos
bleibt – lernt er eine nette Frau kennen und verbringt die Nacht mit
ihr. Am nächsten Morgen werden die beiden von deren Verlobten erwischt.
Dieser versucht Blake zu erschießen, tötet dabei aber seine Verlobte
und wird daraufhin von Blake erschossen. Blake entkommt schwerverwundet
und trifft auf den Indianer Nobody. Mit ihm flüchtet er scheinbar
ziellos durch die Gegend, indes er von drei Killern verfolgt wird, die
der Vater des erschossenen Gehörnten angeheuert hat. Zuletzt – nach
zahlreichen Toten, die mehr oder minder auf die Rechnung Blakes gehen –
erreichen William Blake und Nobody das Meer. Der im Sterben liegende
Blake wird von seinem Freund in ein Boot gelegt und treibt zum
Horizont. Nobody und Cole Wilson erschießen sich gegenseitig.

Jarmusch spickt diese Handlung mit Versatzstücken aus
verschiedenen Mythen. So können sowohl der Name „Nobody“, der
Menschenfresser „Cole Wilson“ als auch die Irrfahrt, die Nobody nach
Europa und zurück führte, als Anspielung auf Homers „Odyssee“ angesehen
werden. In der Figur des William Blake finden sich verschiedene
Anspielungen auf Christus wieder: das Wundmal am Herzen, das ihn zum
„Dead Man“ macht, ihn aber nicht tötet, die verschiedenen
„Schädelstätten“, durch die ihn seine Flucht führt und seine
„Himmelfahrt“ im Boot am Ende des Filmes, die ihn zu dem Ort zurück
bringt, „where all the spirits came from.“

Dann darf natürlich die Namensgleichheit William Blakes zum
englischen Dichter des 18. Jahrhunderts nicht übergehen werden! Nicht
nur, dass diese dem auf englische Literatur studierten Indianer Nobody
auffällt („If you are really William Blake than you are a poet and a
painter!“): Der belesene Betrachter findet zahlreiche Anspielungen an
das mystische Werk William Blakes in DEAD MAN wieder. Neben der
Geliebten Blakes, die nach „The book of Thel“ benannt wurde, ist dies
vor allem die verschrobene Christusvision, die der Autor Blake in
seiner Lyrik darstellt und die mit der Charakterzeichnung des
Revolverhelden Blake aus Jarmuschs Film eigentümlich korrespondiert.
Blake wie Blake verurteilen den amoralischen Werdegang der christlichen
Kirche. Der Revolverheld, indem er eine fast sakral anmutende Tötung an
einem Geistlichen vornimmt, welcher Rassist war, vom Bischof gesegnete
Munition verkaufte und den Indianern mit Pockenviren verseuchte Decken
andrehte.

Somit lässt sich vermuten, dass sich hinter dem vordergründigen
Western DEAD MAN tiefe hermeneutische Schluchten aufwerfen. Es ist nur
schwer möglich, alle Anspielungen zu dechiffrieren und hinter den
leitmotivisch auftauchenden Gegenständen (Knochen, Rosen, Gewehrtausch,
…) und Aussagen der Protagonisten (häufige Erwähnung finden
„Philister“ und die Frage nach Tabak) „running gags“ zu sehen.

An Anspielungen, gesellschaftlichen Diskursen und psychologisch
und philosophischer Hintergründigkeit hat es ja auch schon den
Genrewestern oben genannter Regisseure nicht gefehlt. Was die Filme
derer aber von DEAD MAN unterscheidet, ist, dass Jarmusch ganz bewusst
diese oder jene Mittel einsetzt, mit dem Ziel, die Seherfahrungen des
Zuschauers in Frage zu stellen. Wer erwartet schon von einem Mann wie
Blake, der in seinem karierten Anzug, dem städtischen Hut (samt
darunter befindlichem pomadierten Schopf) und der Nickelbrille eher
clownesk aussieht, dass sich dieser zu einem Revolverhelden entwickelt?
Und ein intellektueller Indianer, dessen verschlüsseltes Reden weit
mehr als nur das „stählerne Ross“ eines Chief Seattle zu bieten hat,
der zudem eine (wenn auch unfreiwillige) Bildungsreise in die alte Welt
hinter sich hat: Ein solcher Indianer hat sich auch weit von der
skalpierenden oder in Reservaten Whiskey trinkenden „Filmrothaut“
entfernt. Und dass man von Profikillern einiges Widerliche erwarten
kann (ob geistige Grausamkeiten, wie in Leones ONCE UPON A TIME IN THE
WEST oder Massenhinrichtungen, wie in Corbuccis LEICHEN PFLASTERN
SEINEN WEG), ist klar. Aber ein Menschenfresser wie Cole Wilson ist mir
nach meiner bisherigen Seh-Erfahrung dieses Genres noch nicht
untergekommen(auch wenn Klaus Kinskis Absichten im Corbucci-Film – wie
immer – relativ zweideutig sind!).

So sind in DEAD MAN die Handlung durch triste Einfachheit und
die Charaktere durch grelle Überzeichnung markiert. Konventionen werden
gesprengt und Erwartungen enttäuscht. Das geht sogar soweit, dass die
Wild-West-Szenerie, die noch einst in romantischem Technicolor
schimmerte, in DEAD MAN in artifizieller Schwarz-Weiß-Ästhetik weichen
musste.

4. „Going back where all the spirits came from“

Es hat sich nun gezeigt, was DEAD MAN mit dem Genrewestern gemein
hat und was ihn davon unterscheidet. Ich hebe hier aber hervor, dass es
wohl zu einfach wäre, in DEAD MAN einfach nur eine Persiflage zu sehen.
Dazu sind die Anspielungen zu verdeckt und außerdem die Ähnlichkeiten
zu anderen Jarmusch-Filmen zu stark, die auch schon mehr als nur
karikieren wollten.

Die Methode, der Jarmuschs Drehbuch und Film zugrunde gelegen
haben dürfte, findet sich in vielen Kunstwerken der sogenannten
Postmoderne wieder. Scheinbar wahllos werden Stile und Epochen zitiert,
symbolisch stark aufgeladene Topoi benutzt und dem Sujet eine
Beliebigkeit unterlegt, die Programm ist. So gesehen kehrt der Autor in
das Genre zurück und zwar viel schillernder und deutlicher als in der
Kunst der „Prä-Postmoderne“. Es zeigt sich in der Wahl und
Zusammenstellung des Alten das wirklich Neue.

Die Frage wieder aufgreifend, ob DEAD MAN nun zum Western zu
zählen ist und was dann mit dem „Lebenslauf“ dieses Genres geschieht,
stelle ich fest, dass dieses Genre mit DEAD MAN einen Appendix bekommen
hat. Die Entwicklung vom Frühwestern der 30er bis zum Spätwestern Ende
der 60er Jahre und die darauffolgende Ausschlachtung der Ideen durch
die Italiener (die das ja bei fast jedem Genre (man beachte nur die
„Zombi“-Plagiate nach George A. Romeros DAWN OF THE DEAD) mehr oder
weniger aufdringlich praktiziert haben) wird nun postmodern
fortgesetzt. Danach ist vieles denkbar. So kann getrost Peter Hyams
OUTLAND (dessen verblüffende Ähnlichkeit mit Zinnemanns HIGH NOON wohl
kaum Zufall ist) auch als Western bezeichnet werden; auch wenn hier
lediglich die Story in groben Zügen beibehalten wird.

Das Resümee dieser Entwicklung ist die Wiedergeburt des Autoren
(der ja, wie gesagt, nie richtig hinter dem Genre verschwunden ist) und
des totgeglaubten (manchmal auch totgehofften) Genres. Was derzeit in
den Kinos läuft, kann den Beweis für diese Annahme antreten: Wes Craven
versucht, ironisch und subtil in SCREAM mit dem Slasher-Genre der 80er
Jahre zu spielen (was er in „bester“ Was-Craven-Manier unoriginell und
schlecht ausführt), der Invasions-SF erlebt eine mal mehr, mal weniger
erfrischende Renaissance mit Filmen wie Roland Emmerichs INDEPENDENCE
DAY, Tim Burtons MARS ATTACKS! oder Paul Verhoevens STARSHIP TROOPERS
und die melodramatische Romanze, die mit GONE WITH THE WIND
untergegangen schien (und im Heimatfilm auf Schmalz anstatt Zelluloid
gefilmt ihr Comeback versuchte), ist mit Camerons TITANIC wieder
aufgetaucht.

Und das ist nur normal und richtig, denn warum ständig etwas Neues
erfinden (was der Autoren-Genie-Begriff der Aufklärung forderte), wenn
Ausdruck auch in die Wiederholung und Änderung des Alten eingebracht
werden kann? Und ein Kriterium, ob ein Film gut oder schlecht ist, ist
zum Glück seit langem nicht mehr nur die Originellität des Plots, was
sich an DEAD MAN eindrucksvoll gezeigt hat.